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Begrabt die Neoklassik!

| 26. Juli 2022

Steve Keens „The New Economics – A Manifesto” ist das richtige Buch zur richtigen Zeit – und eine gnadenlose Generalabrechnung mit den Modellen der Neoklassik.

Wer die Auseinandersetzung mit der Ökonomie spannend findet, weil sie sich durch das komplexe Zusammenspiel von Mensch, Natur, Technik und Geld auszeichnet, wer dort einen Schlüssel zur Lösung der dringenden Menschheitsfragen soziale Ungleichheit, Armut des globalen Südens, Klima-/Umweltkatastrophe und Kriege vermutet, wird enttäuscht. Zumindest dann, wenn man den Fehler begeht, sich in das Studium der etablierten – neoklassischen – Ökonomik zu stürzen. Was dort fehlt, findet man in Steve Keens neuestem Buch „The New Economics – A Manifesto“ (Keen, Steve. The New Economics. Wiley 2021. Kindle-Version.)

Die neoklassische Ökonomik sei keine Wissenschaft, schreibt der australische Wirtschaftswissenschaftler von der Londoner Kingston University angriffslustig. Nach dem Physiker Thomas S. Kuhn entwickele sich eine wirkliche Wissenschaft innerhalb eines Paradigmas, bis sie an Grenzen stoße, die deutlich machten, dass die Realität in dem alten Rahmen nicht angemessen erklärt werden könne. Dies führe zum Paradigmenwechsel, bis sich neue Ungereimtheiten auftäten und so weiter. Die neoklassische Ökonomik hingegen sei schon oft an ihre Grenzen gestoßen, man habe deswegen aber nie das Paradigma verändert, sondern jedes Mal die Anomalien als „schwarze Schwäne“ erklärt: zufällige Störungen von außen, die nichts mit den „normalen“ Wirtschaftsabläufen zu tun hätten.

Ein weiterer Grund für die Unwissenschaftlichkeit der etablierten Ökonomik sei deren Politisierung. Die Neoklassik sei als kapitalismus-apologetische Gegenbewegung zur klassischen Ökonomik entstanden, die durch Marx, trotz seiner Bewunderung für die außerordentliche Dynamik dieses Systems, eine kapitalismuskritische Richtung bekommen hatte. Das kapitalistische Paradies der Neoklassik sei jedoch nur als allgemeines Gleichgewicht unter Ausklammerung aller Widersprüche zu denken. Und so breite sich Langeweile aus.

Um funktional und wissenschaftlich zu sein, so Keen, müsse ein neues Paradigma der Wirtschaftswissenschaften folgende Bedingungen erfüllen, die er in seinem Buch erläutert:

  • Modellierung des Kapitalismus als komplexes, dynamisches und chaotisches System (Kapitel 3),
  • Verwendung systemanalytischer mathematischer Methoden (Kapitel 6),
  • Arbeit mit realistischen Grundannahmen (Kapitel 5),
  • Berücksichtigung der zentralen Rolle des Geldes (Kapitel 2) und
  • der physikalischen Gesetze der Thermodynamik (Kapitel 4).

Sein Manifest richtet sich an junge Studenten, die vor dem Entschluss stehen, Volkswirtschaft zu studieren. So ist es auch für interessierte Laien verständlich und gibt über die ausführlichen Literaturhinweise zum Selbststudium Anregungen zum Weiterlernen. Besonders hilfreich ist, dass Keen dazu seine „Minsky“- Software zur systemanalytischen Modellierung (inklusive Handbuch „Minsky for Dummies“) kostenlos zur Verfügung stellt.

Gleichgewicht ist der Zustand, der nie erreicht werden kann

Die Volkswirtschaft ist ein komplexes System, in der verschiedene Variablen miteinander interagieren: „Weder unsere Gegenwart noch unsere Vergangenheit, geschweige denn unsere Zukunft, können verstanden werden, ohne die Rückkopplungen zu berücksichtigen, die sowohl zwischen den einzelnen Systemen als auch innerhalb dieser Systeme bestehen", schreibt Keen. Während die Neoklassik davon ausgeht, dass sich solche Systeme auf Dauer hin zu einem Gleichgewicht einpendelten und dieses Equilibrium als Normalzustand analysiert, sei mathematisch längst bewiesen worden, dass das Gegenteil der Fall ist – das Gleichgewicht ist der Zustand, der nie erreicht werden kann.

Indem sie auf lineare Gleichgewichtsmodelle zurückgriffen, wählten die Neoklassiker also den Weg der unzulässigen Vereinfachung. Aber, so Keen, das rechtfertige nicht die grundsätzliche Skepsis vieler heterodoxer Ökonomen gegenüber mathematischen Modellierungen. Der Erfinder der systemanalytischen Methode Jay Forrester habe 1956 sein erstes Modell für den Bereich der Wirtschaft entwickelt. Heute sei die Anwendung solcher Methoden in vielen Bereichen (Wetter, Physik) Standard; die Ökonomik habe sie jedoch nie akzeptiert. Dass sei, so Keen weiter, ein großer Fehler, und er selbst arbeite als Ökonom sehr erfolgreich damit. Auf der Basis von Integralfunktionen sei es so möglich, dutzende Variablen mit hunderten von Feedbackschleifen in ihren realen Zeitabläufen und -spannen erfolgreich zu modellieren.

Das erbrächte bisweilen überraschende Ergebnisse; zum Beispiel stützten diese die Annahme, komplexe Systeme wiesen emergente Eigenschaften auf, Eigenschaften die sich nicht aus den Variablen selbst, sondern aus deren Zusammenspiel ergeben. Aus diesem Grund könne man nicht wie die Neoklassik volkswirtschaftliche Modelle aus Mikrofaktoren, vor allem dem Verhalten zweckrationaler Individuen konstruieren. Mit anderen Worten: Das Ganze ist sehr viel mehr als die Summe der Einzelteile. Die Makroökonomie müsse für ihre Modellierungen vielmehr von volkswirtschaftlichen Gesamtgrößen wie Einkommen, Kapitaleinsatz und Output ausgehen.

Keen hat unter diesen Prämissen unter Verwendung systemanalytischer Methoden als einer von wenigen Ökonomen die Finanzkrise von 2008 richtig prognostiziert. Viel schwerwiegender aber sei, wie er selbst einräumt, dass Ökonomen wie Donella und Dennis L. Meadows in ihrem Buch „Die Grenzen des Wachstums“ auf der Basis solcher Modelle schon 1972 die heute sich immer stärker abzeichnende Klima-/Umweltkrise vorhergesagt hätten. Methodik und Ergebnisse, die von der Mainstream-Ökonomik kategorisch zurückgewiesen worden sind.

Dass die Neoklassiker aus Vereinfachungsgründen am zweckrationalen Agenten als Ausgangspunkt, festhielten, führe aber nicht nur deswegen zu falschen Ergebnissen, weil es der Komplexität des Wirtschaftssystems nicht gerecht werde. Sondern auch, weil es sich dabei um eine völlig unrealistische, absurde Annahme handele. Eine Theorie der volkswirtschaftlichen Gesamtnachfrage, die davon ausgeht, dass es keinen Unterschied mache, ob Elon Musk oder die Harz IV-Empfängerin Ida Meier einen Euro mehr in der Tasche hätten, könne nicht stimmen. Milton Friedman hingegen habe sich mit seiner Behauptung durchgesetzt, dass unrealistische Annahmen kein Problem seien, und es auf die innere Stimmigkeit der Theorien und die Richtigkeit der daraus entwickelten Prognosen ankomme. Damit seien die Neoklassiker jedoch grandios gescheitert.

Mit verheerenden Folgen: So wurde in den letzten Jahren der Widerspruch zwischen den Vorhersagen der Klimaforscher und den Vorhersagen der Ökonomen zu den wirtschaftlichen Auswirkungen des Klimawandels immer größer – 50 Jahre, die die Menschheit verloren hat, um mit der kommenden Zivilisationskrise umzugehen.

Kapital und Arbeit ohne die Natur gedacht

Keens korrekte Vorhersage der Finanzkrise 2008 basierte auf seiner Entdeckung, dass es seit den kapitalistischen Anfängen der unkontrollierte Anstieg der privaten Schulden und nicht der der Staatsschulden gewesen sei, der zum Rückgang des Bruttosozialprodukts und zu Wirtschaftskrisen geführt habe. Im Laufe der Geschichte hätten immer erst Kriege für die Wiederherstellung eines gesunden Verhältnisses zwischen privater Verschuldung und Bruttosozialprodukt gesorgt. Als Alternative rechnet Keen vor, wie durch einen geordneten Schuldenschnitt heute ein entsprechender Reset möglich wäre.

Dafür bietet er seinen Lesern eine Exkursion durch die Prozesse der staatlichen Geldschöpfung „aus dem Nichts“ und die Geldschöpfung der Banken über die Vergabe von Krediten. Keen widerlegt dabei anschaulich (mithilfe der Kalkulationstabellen der „Minsky“-Software, die er auf der Grundlage von Minskys „Theorie der finanziellen Instabilität“ entwickelt hat) die neoklassischen Grundannahmen zum Geld.

Als wohl schwerwiegendsten Fehler aller Ökonomen seit Adam Smith sieht Keen die Tatsache an, dass sie die Vorstellung der Physiokraten – menschlicher Reichtum beruhe auf den „kostenlosen Gaben der Natur“ – aufgegeben hätten und ihre Output- und Werttheorien nur noch auf den Faktoren Kapital und Arbeit aufbauten. Keen schreibt:

„Wenn man eine Grundlage für die Makroökonomie sucht, dann sollte es eine Verbindung zu den physikalischen Grundlagen sein, wie unsere Zivilisation die mineralischen und biologischen Gaben der Biosphäre in die Industrieprodukte umwandelt, die wir verbrauchen, und die Abfälle, die wir zwangsläufig in die Biosphäre zurückwerfen.“

Der wichtigste Faktor sei die Nutzung der fossilen Energien. Zwischen dem Bruttosozialprodukt und dem Energieeinsatz bestehe eine Korrelation von 0,83 %, das heißt, 100 Energieeinheiten weniger senkten dieses um ca. 80 %. Diese Relation werde von den Mainstream Ökonomen völlig unterschätzt.

Dabei, so Keen, sei es problemlos möglich, die Faktoren Energie und Rohstoffeinsatz in die gängigen Output-Modelle zu integrieren. Die von den Postkeynesianern bevorzugte Leontief-Produktionsfunktion brächte Ergebnisse, die der oben angeführten Korrelation entsprächen; aber sogar die Ergebnisse aus der Verwendung der sogenannten Cobb-Douglas-Funktion der Neoklassiker seien weitaus realistischer als die bisher vorliegenden Schätzungen aus dem Mainstream.

Eine neue Werttheorie

Aus alle dem entwickelt Keen eine neue Werttheorie, die gleichzeitig auch die globalen Beziehungen und Auseinandersetzungen in die Ökonomik integriert:

„Anstatt dass Kapitalisten die Arbeiter ausbeuten, wie Marx behauptete, oder dass Kapital und Arbeit gemeinsam einen Anstieg des Nutzens im Laufe der Zeit bewirken, wie die Neoklassiker annehmen, konkurrieren die sozialen Klassen der Menschheit um einen Anteil an der nützlichen Arbeit, die durch die Ausbeutung der bereits vorhandenen Energie – in erster Linie der fossilen Brennstoffreserven des Planeten – geschaffen wird.“

Indem wir also – gemäß den Gesetzen der Thermodynamik – die Schaffung von Ordnung durch Produktion mit der Verstärkung der Unordnung im Universum bezahlten, entzöge sich die Menschheit mit der Zeit ihre eigenen Grundlagen. Um das zu verhindern, sei es nötig, von einer „Cowboy-Wirtschaft“ des grenzenlosen Wachstums auf eine „Raumschiff-Wirtschaft“ der endlichen Ressourcen umzusteigen.

Die Neoklassik als Bedrohung

Fazit: Steve Keen legt ein lesenswertes Buch vor, das das Potential zu einem Standardwerk hat. Bekanntes ist wiederzufinden, verständlich und anschaulich erklärt. Neues taucht auf, mit einleuchtenden Antwort-Ansätzen auf Fragen, die man schon lange hatte, Handwerkszeug zur Arbeit mit diesen Ansätzen wird mitgeliefert, genauso wie konstruktive Vorschläge zur Lösung dringender Probleme. Das Buch macht Lust, auf dieser Grundlage eine Entdeckungsreise in die Realität zu beginnen, mit dem Motiv, die Welt besser zu machen, und der Gewissheit, dass die Rede von Alternativen keine bloße Rhetorik ist.

Leider gibt es für Keen wenig Grund zum Optimismus. Er zitiert den führenden Vertreter der mathematischen Dynamik John Blatt, der 1983 in seinem Buch „Dynamic Economic Systems: A Post-Keynesian Approach“ schrieb:

„In der Tat könnten einige denken, dass der Kapitalismus als soziales System verschwunden sein wird, bevor Ökonomen seine Dynamik verstanden haben.“

Was er damals für Übertreibung gehalten habe, betrachte er heute als eine bedrückende Vorhersage. Und so klingt auch Keens Schlusswort:

„In Anbetracht der Rolle, die neoklassische Ökonomen dabei gespielt haben, dass die Menschheit bisher nur triviale Antworten auf die Herausforderung des Klimawandels gefunden hat, [...] betrachte ich die neoklassische Ökonomik nicht nur als eine schlechte Methodik für die Analyse der Wirtschaft, sondern als eine existenzielle Bedrohung für den Fortbestand des Kapitalismus – und der menschlichen Zivilisation im Allgemeinen. Sie muss verschwinden.“