Makroskop
Essay

Wacht endlich auf!

| 07. Oktober 2025
Tandem X Visuals / Unsplash

Die Ignoranz derer links der Mitte wird die AfD an die Macht bringen.

Laut einer Insa-Umfrage vom 21. September hat die AfD die CDU knapp überholt, zusammen kommen sie bundesweit auf 51 Prozent. Andere realistische Regierungskoalitionen als eine blauschwarze wären bei einem solchen Wahlergebnis nicht denkbar – es sei denn, die CDU hält an der Brandmauer fest und bildet mit den anderen kleineren Parteien ein „antifaschistisches“ Bündnis. Dazu wird es nicht kommen. Wenn die Stärkung der AfD fortschreitet – wofür leider viel spricht –, wird die Brandmauer Geschichte sein.

Der Tübinger OB Boris Palmer hat etwas Ehrenwertes getan. Er hat mit einem AfD-Politiker öffentlich debattiert. Sein Ziel war es, die AfD zu entzaubern. Nach Meinung einiger Kommentatoren ist ihm das gelungen, die AfD sei – näher betrachtet – nackt. Vermutlich trifft leider der Kommentator der WELT ins Schwarze: AfD entlarven? Das bringt nichts mehr, das ist zu spät. Die Leute wählen die AfD aus Protest. Die Inhalte der AfD interessieren nicht. Die Partei wird gewählt, egal, was sie politisch will und ob sie mir schadet oder nützt. Man hat die „Schnauze voll von denen da oben“, und angeblich gehört die AfD nicht zu „denen da oben“. Mal gucken, was kommt. Schlimmer kann es jedenfalls nicht werden, glauben die AfD-Wähler.

Der typische Reflex aus bestimmten Kreisen – „Wir müssen die AfD jetzt endlich verbieten!“, oder „Wir müssen die AfD aus dem öffentlichen Diskurs raushalten, um sie zu marginalisieren“ – zeugt von einem gefährlichen Unverständnis der Situation. Wer so reagiert, ist nicht aufgewacht. Davon lässt sich kein (potenzieller) AfD-Wähler beeindrucken. Er oder auch sie nimmt solche Reaktionen eher als Beleg dafür, dass man richtig liegt. Jede Demonstration für mehr Demokratie und gegen rechts wird die Rechten stärken: „Ihr wollt uns ausgrenzen? Könnt ihr haben. Aber bald sind wir mehr.“ Und: Die AfD wird klug agieren. Sie wird viel Kreide fressen, um jeden Anschein einer rechtsextremistischen Verfassungsfeindlichkeit zu vermeiden.

Warum wählen die Menschen die AfD? Wir können eine beliebig lange Liste von Motiven schreiben. Die potenziellen Motive werden aber von dem Verlangen, „Protest“ zu zeigen und zu wählen, überlagert. Das Kreuz des AfD-Wählers auf dem Wahlzettel ist so primär eine expressive Handlung, ein Gefühlsausbruch, der auf das Abwägen von Argumenten verzichtet. Ob nach dem Abstimmungsexzess Katerstimmung angesagt ist, interessiert ihn nicht.

Gut gemeinte Aufklärungsversuche derer links der Mitte werden deswegen auch nichts fruchten. Wichtiger als Aufklärung über die Defizite der AfD ist eine Selbstaufklärung derer Links der Mitte über die eigenen Defizite, die die AfD gestärkt haben. Vielleicht können wir so noch etwas retten.

Meinungsfreiheit

Während der Coronapandemie war ich staatstragender Agnostiker. Ich konnte die Gefahren dieses Virus nicht beurteilen. Die Regierungen agierten in meinen Augen zum Teil kopflos und taten oft genug Falsches. Ich hatte aber nie grundsätzlich das Vertrauen in die staatlichen Akteure verloren. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Regierungen überall in der Welt ihre Gesellschaften willentlich zerstören. Davon gehe ich auch heute noch aus, auch wenn ich heute weiß, dass gelogen wurde („diese Pandemie ist eine Pandemie der Ungeimpften“). Aufarbeitung tut not, wer da was im Schilde führte, welche Grundrechte ungerechtfertigt eingeschränkt wurden und was aus Unwissenheit falsch lief.

Ich wäre in dieser Zeit nie auf den Gedanken gekommen, dass es eine Einschränkung der Meinungsfreiheit gibt. Wenn man auf der Seite der Mehrheit ist, merkt man nichts. Heute würde ich sagen, dass die Kritiker der Maßnahmen zum einen echte Schwurbler und Verschwörungstheoretiker und zum anderen seriöse Forscher und denkende Zeitgenossen waren, die aus dem gesellschaftlichen Diskurs rausgedrängt und als Schwurbler stigmatisiert wurden.

Warum haben die Medien das gemacht? Ich habe keine plausible Antwort. Nur wenige hatten wie Frank Plasberg später die Größe, sich zu entschuldigen. Plasberg hat sich für sein Verhalten in der damaligen Sendung „Hart, aber fair“ bei der Philosophin und Maßnahmenkritikerin Svenja Flaßpöhler entschuldigt.

Meine persönliche Erfahrung änderte sich mit dem Ukrainekrieg. Nachdem die Russen in der Ukraine einmarschiert waren, hat mich nur ein Gedanke beschäftigt: Wie können wir schnell einen Frieden erreichen, einen Frieden, der weiteres Blutvergießen verhindert und der die Interessen aller Beteiligten berücksichtigt? Zu meiner großen Überraschung interessierte das in den Medien (aber auch in meinem Bekanntenkreis) fast niemanden. Ich war der Outlaw. In der TAZ wurde ich belehrt, dass der Deutsche kein Krieger mehr sei und dass das unser Problem sei.

In einer Veranstaltung der juristischen Fakultät der Uni Freiburg beschäftigte man sich nur damit, wie man Putin nach Den Haag bekommt. Meine Frage, wie man zum Frieden kommen könne, interessierte niemanden. Die Badische Zeitung entwickelte sich zu einem offensichtlich einseitig ideologischen Blatt. Natürlich gab und gibt es in den Medien auch immer andere Stimmen, aber sie hatten und haben keine echte Chance, als gleichwertige Beiträge zu einer Auseinandersetzung um diesen Krieg wahrgenommen zu werden. Man ist die Stimme Putins – egal, welche gesellschaftliche Reputation man hat oder richtiger: plötzlich nur noch hatte.

Habermas‘ sehr zurückhaltendes Werben Anfang 2023 für Friedensverhandlungen wurde von Herfried Münkler in einem Deutschlandfunkinterview in einer niveaulosen Weise diffamiert, dass ich jeglichen Respekt vor Münkler verlor. Habermas selbst war überrascht und schockiert, was ihm widerfuhr. Harald Welzer zieht in seinem Buch „Zeitenende“ Parallelen zwischen den Intellektuellen und Akademikern in der Nazizeit und den heutigen Intellektuellen. Sie wussten immer sofort: „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing.“ Sie waren immer die ersten auf der richtigen Seite.

Wir brauchen mehr Mainstream“ – mit diesem Spruch wirbt MAKROSKOP. Wir brauchen wieder einen breiten Diskursraum in den Medien. Die Klage darüber, dass es in den sozialen Medien zu viele (rechte) Verschwörungstheorien und „alternative Fakten“ gibt, ist hohl, wenn die Klagende nicht gleichzeitig dafür kämpft, mehr öffentlich und fundiert zu streiten. Vielleicht werden die Verschwörungstheorien an Bedeutung verlieren, wenn im Mainstream wieder richtig gestritten wird – ohne vorschnelle Diffamierung des Gegners. Ein bisschen Hoffnung muss man sich erhalten.

Die AfD geriert sich zurzeit als Anwältin der Meinungsfreiheit. Das tat Vance in seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz auch. Heute wissen wir spätestens seit der Ermordung von Charlie Kirk, er kämpft nur so lange für die Meinungsfreiheit, bis er die öffentliche Meinung kontrollieren kann. Die AfD wird uns eine kuriose Mischung aus Privatisierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks (ÖRR) und höckescher Volks-Erziehung servieren, eine Mischung aus endgültig zerstörtem öffentlichen Diskurs und Erziehung zum wahren Deutschsein.

Aber es ist sinnlos gegen die Rechten zu wettern, wenn die links der Mitte ihre Hausaufgaben nicht machen. Und dazu gehört es, anzuerkennen, dass wir hier und jetzt Diskurseinschränkungen haben und dass wir wieder einen breiteren Mainstream brauchen. Eine Reform des ÖRR – die konsequente Umsetzung seines Auftrages, alle Strömungen unserer Gesellschaft ohne angeblich wertebasierte Einordnung zu Wort kommen zu lassen – ist dabei ein wichtiger Schritt. Jeglicher Diskursausschluss durch die Links der Mitte wird sich bitter rächen. Die Rechten werden zu gegebener Stunde nicht zimperlich sein – die USA lehren uns das. Wenn die Links der Mitte sich für den offenen Meinungsstreit einsetzen, bieten sie den Rechten eine offene Flanke weniger.

Diversity und der Kampf um Anerkennung

Menschen wollen Anerkennung. Je individualisierter eine Gesellschaft ist, desto größer ist das Bedürfnis des einzelnen nach Anerkennung. Wir brauchen die Rückmeldung der anderen, dass wir etwas Besonderes, mindestens jemand Wichtiges sind.

In einer Gesellschaft findet ein „Kampf um Anerkennung“ statt, wir können dabei die materielle und die Handlungs-Dimension unterscheiden. Materielle Anerkennung reicht vom hoffentlich selbstverständlichen täglichen Brot über gut bezahlte Arbeit bis zur steilen Karriere mit entsprechenden pekuniären „Wertschätzungen“. So wie um die Verteilung materiellen Reichtums gestritten wird, wird in einer Gesellschaft auch das Recht zu bestimmten, insbesondere kommunikativen Handlungen verteilt. In einer absolut egalitären Gesellschaft haben alle gleich viel und alle haben überall das gleiche Handlungsrecht.

Dies ist kein Ideal, aber eine Folie, vor der wir Ungerechtigkeiten oder Ungleichheiten identifizieren können. Realiter wird es immer materielle Ungleichverteilungen geben und eine Gesellschaft braucht Institutionen (zum Beispiel Parlamente, Verwaltungen, Gerichte etc.), in denen bestimmte Menschen zu handeln, zu reden und zu entscheiden legitimiert sind und andere nicht. Emanzipationskämpfe sind Kämpfe um materielle Ressourcen und um Handlungsrechte (primär Rede- und Entscheidungsrechte; Entscheidungen sind kommunikative Akte). Wie man dabei angeredet wird, ist vollkommen sekundär. Der gewievte Chef wird sich aufs Gendern einlassen, wenn er gleichzeitig seine Macht und seinen Reichtum erhalten kann.

Es gibt linke Kritiker der geschlechtersensiblen Sprache, die darauf verweisen, dass die Diskussion um die richtigen sprachlichen Ausdrücke von den eigentlichen Emanzipationskämpfen ablenkt. Darauf wenden Unterstützer der Gendertheorie ein, dass man diese Kämpfe und den Kampf um die richtige Sprache führen muss. Das eine tun und das andere nicht lassen.

Das geht meines Erachtens am Problem vorbei. Ich habe mich zur Diversity-Bewegung in dem Artikel „Rettet die Vielfalt!“ geäußert. Meine These ist, dass die queere Bewegung entgegen ihrem Anspruch nicht Individualität, Freiheit und Universalismus denken kann, sondern all dies gefährdet. Man kann es hier nachlesen.

Was wir seit vielen Jahren erleben, ist, dass eine Subkultur mit ihren sprachlichen Erkennungscodes und ihren sprachtheoretischen und anthropologischen Annahmen („es gibt viele Geschlechter“) versucht, die Kultur der Mehrheitsgesellschaft zu dominieren. Dazu hat sie kein Recht.

Die queere Subkultur hat als Subkultur ihr Recht in unserer Gesellschaft. Diese Subkultur ist vor Übergriffen der Rechten zu schützen. In Deutschland dürfen keine Homosexuellen oder Queere mehr gejagt und gedemütigt werden. Die Subkultur kann wachsen oder schrumpfen und sie wird in die gesamte Gesellschaft diffundieren, wenn die Mehrheitsgesellschaft dafür aufnahmebereit ist. In einer revolutionären Situation kann auch eine gewaltsame und plötzliche Veränderung der Verhältnisse anstehen. Die queere Bewegung ist aber keine revolutionäre Bewegung, die von den Massen getragen wird. Sie ist ein paradoxes Projekt bestimmter Eliten, die sich mit ihren Sprachcodes von den vielen zugleich abgrenzen und sich ihnen belehrend zuwenden wollen.

Die queere Identitätsbewegung hat ein Recht auf ihre Existenz, sie hat aber kein Recht, zu fordern, dass die Mehrheitsgesellschaft sich an ihren Vorgaben und Annahmen orientiert. Das ist eine Anmaßung. Dies müssen die links der Mitte erkennen und anerkennen. Sie entziehen damit den Rechten Argumentationsboden und schützen die Queeren.

Freiheit der Kunst

Wir werden uns schnell darauf verständigen können, dass Trump, Vance und Co. spätestens nach der Ermordung Kirks eine rechte Cancel Culture verfolgen. Bei der Trauerfeier für den ermordeten Kirk hatte Kirks Frau dem Mörder vergeben. Das Christentum stehe für Vergebung und Liebe. Trump widersprach ihr noch auf der Feier vehement und erklärte, dass er die Linke hasse. Ihr gehöre sein Hass, davon lasse er sich nicht abbringen. Sein Hass will Vernichtung des Gehassten.

Gibt es eine linke Cancel Culture? Die Antwort derer links der Mitte ist, dass es die nicht gebe, sondern eine Erfindung der Rechten sei. Schauen wir uns an, wie der queere Autor Karsten Schubert in seinem Buch „Lob der Identitätspolitik“ argumentiert. Für Schubert gibt es kein linkes Canceln. Als Beispiel greift er den Streit um das Gedicht „avenidas“ von Eugen Gomringer heraus.[1] Er widerspricht den Medien, die das Geschehen um das Gedicht als Beleg fürs Canceln sehen wollen. Das Gedicht, das Gomringer 1954 schrieb und ein herausragendes Beispiel für konkrete Poesie ist, wurde 2011 Gomringer zu Ehren auf einer Fassade der Alice-Salomon-Hochschule Berlin angebracht. Studierende forderten 2017 die Entfernung des Gedichtes, da es sexistisch sei und Frauen zum bloßen Objekt mache.

Es gab einen langen Streit, endgültig gab die Hochschulleitung nach und das Gedicht wurde durch ein zeitgenössisches Gedicht von Barbara Köhler ersetzt. In Zukunft werden Gedichte auf der Hauswand nun alle fünf Jahre übermalt. Aus Empörung über die Übermalung ließ eine Berliner Wohnungsgenossenschaft das Gedicht zwei Kilometer von der Alice-Salomon-Hochschule entfernt wieder an einer Hausfassade anbringen – abends beleuchtet und auf einem zweiten Haus auch in deutscher Übersetzung. Der Heimatort Gomringers brachte dieses Gedicht ebenfalls auf einer Hausfassade an. Auch nachdem alle Fassaden mit Gedichten versorgt waren, ging die Diskussion weiter.

Laut Schubert handelt es sich nicht um Canceln. Die Entfernung des Gedichtes sei das Ergebnis eines demokratischen Prozesses (erst Protest, dann Diskussion, dann Entscheidung des zuständigen Hochschulgremiums mit eindeutiger Mehrheit). Schubert macht es sich zu einfach. Gesellschaftliche Institutionen brauchen Prozeduren, die ihre Handlungsfähigkeit gewährleisten, in einer Demokratie sind dies oft Mehrheitsentscheidungen. Aber Demokratie erschöpft sich nicht darin, was eine Mehrheit entscheidet. Der Diskursstrom der Öffentlichkeit, der nicht gestoppt werden darf und hoffentlich auch nicht gestoppt werden kann, ist die Basis der Demokratie.

Hoffen wir, dass dieser Strom breit und prächtig durch den Raum floss, in dem das Hochschulgremium tagte, dass nicht Group-Thinking und Angst vor den protestierenden Studenten den Ausschlag gaben. Dieser Strom ist nach der Entscheidung der Hochschule nicht versiegt. Dies darf man nicht ignorieren. Die Entfernung des Gedichtes war offensichtlich keine Lappalie, wenn man die öffentlich vorgetragene massive Kritik auch von Künstlern, die einen Angriff auf die Autonomie der Kunst sahen, nachliest. Schubert ignoriert die Kontroverse, damit er nicht über Cancel Culture reden muss.

Ist das Gedicht so eindeutig „sexistisch“, wie Schubert behauptet? Kunst ist selten eindeutig. Unterschiedliche Interpretationen heben unterschiedliche Facetten eines Kunstwerks hervor. Rede und Gegenrede der Kunstdeuter eröffnen uns erst Kunstwerke.

Wäre es nicht besser gewesen, wenn man Gomringers Gedicht gelassen und auf benachbarten Wänden andere Gedichte angebracht hätte; wenn man irgendeinen ästhetischen Dialog oder Streit inszeniert und die unterschiedlichen Interpretationen und Kunstwerke in die Gesellschaft hineingetragen hätte? Dann hätte es nicht nur eine demokratische Mehrheitsentscheidung der Hochschule gegeben, sondern auch einen Beitrag zur gesellschaftlichen Demokratieförderung.

Vielleicht ist die größte Gefahr der aktuellen ästhetischen Diskussion, dass wir verlernen uns auf komplexe Kunstwerke einzulassen und sie schnell auf eine simple Botschaft reduzieren. Schubert kann das Gedicht für sexistisch halten – das ist sein gutes Recht –, irritierend ist aber, dass Sexismus in einer Weise von ihm festgestellt wird, die selbstverständlich davon ausgeht, dass es dazu keine vernünftige Widerrede geben kann. Die heftige Diskussion um die Entfernung des Gedichtes hätte ihm etwas anderes lehren müssen, aber Schubert kann kein Canceln sehen, weil der Sexismus-Vorwurf die absolute Wahrheit ist.

Das ist das eigentliche Problem jeder Cancel Culture: Man wähnt sich im sicheren Besitz der Wahrheit. Schuberts Vorgehen ist auch deswegen so perfide, weil er uns all dies als eine Demokratisierung der Demokratie durch linke Identitätspolitik verkauft. Tatsächlich schadet er damit aber dem queeren und seinem demokratischen Anliegen.

Ich wiederhole mich gerne: Wenn die links der Mitte leugnen, dass es eine linke Cancel Culture gibt, dann wollen sie keinen offenen gesellschaftlichen Diskurs. Diejenigen, die dieses Canceln mit anderen Vorzeichen und brutaler und offensichtlicher fortsetzen wollen, stehen schon bereit. Die links der Mitte sind nur die Vorgruppe und die Rechten können dankbar dafür sein, dass linkes Canceln ein hervorragender Vorwand fürs eigene Canceln ist, wenn sie die Bühne betreten.

Migration

Meine Fahrstunden waren immer anstrengend. Nicht nur, dass ich ein schlechter Fahrschüler war, ich musste mir auch die Vorträge meines Fahrlehrers über „die Ausländer“ anhören, wenn mir gerade nicht gesagt wurde, dass ich links, rechts, schneller oder in einem anderen Gang fahren sollte. Die Ausländer waren des Fahrlehrers größtes Problem. Ich habe ihn mal gefragt, wie er eigentlich mit türkischen Fahrschülern klarkomme. Zu meiner großen Überraschung erzählte er mir begeistert von den großartigen Familienfesten bei bestandener Prüfung, zu denen auch er eingeladen wurde.

In den 1970er und 1980er Jahren konnte man über diesen nörgeligen und schizophrenen Ausländerhass hinwegsehen. Er stellte keine Gefahr dar, er war zwar einerseits tief verwurzelt in der Gesellschaft, andererseits aber insbesondere durch die Früchte des Wohlfahrtsstaates weitgehend neutralisiert.

Im Zuge der 68er Bewegung entwickelte sich (nicht nur) in Deutschland das abstrakte Gegenteil zu dieser Einstellung: zu dem Bösmenschentum gesellte sich das Gutmenschentum. Aus „Ausländer raus!“ wurde irgendwann „Refugees welcome!“. Beide Positionen haben mehr gemein, als es beim ersten Hinschauen scheint. Beide teilen eine nichtegalitäre Positionierung gegenüber den Mitmenschen. Während die einen offensichtlich ihren eigenen Lebensfrust darüber, irgendwie zu kurz gekommen zu sein, durch Ausgrenzen und pauschales Beschimpfen der Ausgegrenzten („die Ausländer“), durch Herabstufung dieser Gruppe also, herauslässt, geht der Gutmensch subtiler vor: Er stellt sich nicht nur über den Ausländerhasser, sondern auch über die, denen er tendenziell Tür und Tor weit öffnen möchte: über die Migranten. Die Migranten sind die Hilfsbedürftigen und die Schwachen, denen der edle Ritter seinen starken karitativen Arm nach unten reicht.

Wer Migranten hilft, macht die Erfahrung, dass sie oft nicht ins eigene Beute- und Hilfsschema passen. Sie sind nicht einfach die dankbaren Objekte karitativen Handelns. Die Helfer lernen, dass die Menschen, die zu uns flüchten, ihre eigene Geschichte haben, dass sie anders sind, als wir es uns in unserer Helferfantasie vorstellen. Es sind Menschen, die sich nicht von uns vereinnahmen lassen. Sie haben oft furchtbare Geschichten hinter sich, die sie geprägt haben, die sie traumatisiert oder ihnen gelehrt haben, ums Überleben zu kämpfen. Es sind Menschen mit guten und schwierigen Seiten. Es sind Menschen aus anderen Kulturen.

Ein Bekannter von mir hatte 2015 in Freiburg alte und reparaturbedürftige Fahrräder eingesammelt. Er und seine Freunde boten ein Reparaturevent für Flüchtlinge an. Die Migranten sollten das selbst reparierte Rad mitnehmen können. Doch die Flüchtlinge ließen sich nicht freudig ins Fahrradreparieren einweisen, sondern rissen sich an Fahrrädern unter den Nagel, was möglich war. Sie waren von dem Überlebenskampf auf der Flucht geprägt.

Der Frust, der Ärger und die Enttäuschung der eigenen Erwartungen können lehrreich sein. In dem Augenblick erkennt der Helfer, dass nicht nur der Migrant ein konkretes und bedürftiges Individuum ist, sondern auch er selbst. Wir sind alle Menschen mit Rechten und Pflichten.

Erst jetzt ist die Basis für den universalistischen Versöhnungstraum gelegt. Der Ritter steigt von seinem Helferross. Er kann nun begreifen, dass auch der Ausländerhasser berechtigte Bedürfnisse hat. Der Helfer, die Migrantin und auch der Ausländernörgler erkennen sich als gleiche Menschen an. Alle Menschen sind Brüder oder auch Schwestern. Dies wäre ein großer Schritt in unserem Land und auch anderswo.

Folgt daraus, dass wir alle Grenzen niederreißen und dass wir den Plan einer Weltregierung verfolgen, weil dies die beste Institution für eine weltweite Demokratisierung sei? Ich halte diese Schlussfolgerung für falsch. Aus einer universalistischen Moral lassen sich nicht unmittelbar politische Institutionen ableiten. Solche Institutionen müssen nicht nur moralischen Ansprüchen genügen, sie müssen schlichtweg auch funktionieren.

Die Kommunitaristin schüttelt ohnehin nur ihren Kopf. Sie sagt uns, dass die Menschen auf konkrete Gemeinschaften angewiesen sind, in denen sie gemeinsame Werte, Traditionen und Bräuche teilen. Der Universalismus werde den Menschen aus Fleisch und Blut nicht gerecht. Meines Erachtens müssen sich Universalismus und Kommunitarismus gegenseitig befruchten. Ein Kommunitarismus ohne universalistische Injektion kann uns nicht erklären, warum die Mafia nicht die beste aller Gemeinschaften ist. Die Mafia ist für dich da – solange du dich an die Regeln hältst und solange du nicht zu den anderen gehörst. Der Seitenwechsel kann tödlich sein.

Der Universalismus wiederum muss das Anliegen des Kommunitarismus ernst nehmen. Menschen identifizieren sich mit konkreten Gruppen und grenzen sich von anderen auch zur Stabilisierung der eigenen Gruppe ab. Das funktioniert, auch wenn alle wissen, dass es nicht ganz ernst gemeint ist. Für den Kölner ist klar, dass Düsseldorf keine richtige Stadt ist, und die Emsländer und Ostfriesen wissen über den jeweils anderen viel Schlechtes zu erzählen.

Kommen wir zur Migration zurück. Ein Land muss bestimmen, welche Migrationspolitik es verfolgt. Deutschland muss in dieser Hinsicht noch erwachsen werden. Dazu gehört, dass wir akzeptieren, dass alle Menschen Brüder und Schwestern sind – dies sei dem undifferenzierten Migrationsnörgler ins Stammbuch geschrieben; und dass wir immer in konkreten Gesellschaften leben – mit ihren jeweiligen Geschichten, Traditionen, Bedürfnissen und ihren begrenzten materiellen Ressourcen – dies sei dem vermeintlichen Weltmenschen gesagt.

Wir müssen anerkennen, dass unsere Gesellschaft immer ein Spannungsverhältnis meistern muss: das Spannungsverhältnis zwischen einem universalistischen humanitären Anspruch und den Ansprüchen der Menschen, die hier leben. Diese Menschen wollen, dass ihre Bedürfnisse und Sorgen gesehen werden. Sie sind leider egoistisch, sie wollen nicht nur Sicherheit, sondern sind auch nicht bereit, für Migranten auf Wohlstand zu verzichten. Die einen erklären dies offen heraus, die anderen predigen den Humanismus, wollen aber faktisch auch nicht verzichten. Die einen sind die Rechten, die anderen sind die links der Mitte.

Eine Gesellschaft wird überfordert, wenn sie zu schnell durch Migration in zu vielen kulturellen Gewissheiten erschüttert wird. Ich halte nichts von Versuchen zu definieren, was das Deutschsein ausmacht. Man wird zu keinem einheitlichen Ergebnis kommen. Ich bin jedenfalls nicht dabei und halte so etwas auch für überflüssig. Man kann aber gleichzeitig nicht leugnen, dass wir gemeinsame kulturelle Prägungen haben. Die Angst vor „Überfremdung“ nimmt man den Menschen, indem Veränderungen im angemessenen Tempo geschehen und wir konsequent für Demokratie und unsere Gebräuche eintreten und den Migranten Integration abverlangen und ermöglichen.

Wenn die links der Mitte eine humanistische Politik anbieten wollen, müssen sie dieses Spannungsverhältnis akzeptieren. Wer die Spannung einseitig zugunsten der Menschen in unserem Land auflöst und das Schild „Ausländer raus!“ aufhängt, hat den universalistischen Anspruch verraten und ist nach rechts abgerutscht. Wer die Ängste der Menschen nicht ernst nimmt; wer ihnen permanent erklärt, dass es nur marginale Migrationsprobleme gebe, die von den Rechten aufgebauscht werden; wer sich vor allem als Weltbürger und erst dann als Vertreter der hiesigen sieht; wer nicht sehen will, dass es Konkurrenz auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt zwischen Migranten und hiesigen Unterprivilegierten gibt; wer nicht sehen will, dass die Versorgung mit staatlichen Dienstleistungen an ihre Kapazitätsgrenze kommt, der wird das bekommen, was er verhindern will: einen massiven Rechtsrutsch.

Wie sieht richtige Einwanderungspolitik konkret aus? Dazu sollen sich Kundigere äußern. Mir ging es in diesem Abschnitt darum zu werben, dass die links der Mitte ein neues Mindset brauchen. Wer keine gute Politik für die Menschen in unserem Land macht, kann auch keine gute Politik für die Menschen der Welt machen. Der Weltbürger ohne Erdung ist nicht von dieser Welt.

Richtige Inhalte, fatales Wording

Richtige und gute linke Politik kämpft für sozialen Wohnungsbau im Besitz der öffentlichen Hand, für das richtige Verständnis unserer Sozialversicherungssysteme, für den Erhalt des Sozialstaates, für die Verringerung der Vermögens- und Einkommensunterschiede, für ein Erstarken der Tarifbindung, für ein richtiges Verständnis von Staatsschulden, für Produktivitätssteigerungen, für einen konsequenten und bezahlbaren ökologischen Umbau unserer Energieversorgung, für eine Landwirtschaft, die die Biodiversität nicht zerstört. Das sind alles Inhalte, auf die man sich im Grundsatz schnell verständigen kann.

Wer dies aber „antifaschistische Wirtschaftspolitik“ nennt, liefert nur Codes, mit denen sich eine kleine Gruppe Linker verständigt. Wer Veränderung will, muss viele erreichen und darf keine Codes verwenden, die abschrecken – insbesondere diejenigen, die wir davon abhalten wollen, die AfD zu wählen. Werden nicht diese Wähler als potenzielle Faschisten gesehen? Das Wording von der antifaschistischen Wirtschaftspolitik erreicht das Gegenteil des Gewollten. Und wir wollen doch viele erreichen, oder?

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[1] avenidas/avenidas y flores/flores/flores y mujeres/avenidas/avenidas y mujeres/avenidas y flores y mujeres y/un admirador. Auf Deutsch: Alleen/Alleen und Blumen/Blumen/Blumen und Frauen/Alleen /Alleen und Frauen/Alleen und Blumen und Frauen und ein Bewunderer.