Der vollkommene Markt
Wirtschaftswissenschaft ist für Sie Neuland, das Sie betreten möchten? Dann lassen Sie sich wie Lukas von Jakob auf eine Reise durch die zentralen Themen, Thesen und Irrtümer unserer Wirtschaftstheorien mitnehmen.
Jakob hat Lukas gezeigt, was mit dem Gleichgewicht des Marktes gemeint ist, von dem Neoklassiker immer reden. Welche Voraussetzungen der vollkommene Markt aber genau besitzen muss, damit sich ein Gleichgewicht einstellt, erklärt Jakob heute.
»Die Voraussetzungen für den vollkommenen Markt bilden eine lange Liste. Sie sind eine Idealisierung: Die Realität wird in dem Modell ›vollkommener‹ gemacht, damit der Markt optimal funktionieren kann. Die zentrale Voraussetzung ist die
- vollkommene Konkurrenz. Wie wir schon gesehen haben, ist Konkurrenz entscheidend für die Effizienz eines Markts. Bauer Andreas hatte ein Monopol, durch das die Kunden benachteiligt wurden. Auf dem vollkommenen Markt muss es sehr viele Anbieter geben, die etwa gleich groß sind.
- Homogenität der Produkte. Die auf Markt angebotenen Güter müssen homogen sein, das heißt, genau die gleichen Eigenschaften haben. Hätten Michaels Kartoffeln einen besonderen Geschmack, der bestimmte Nachfrager besonders anspricht, hätte er eine Art Monopol.
- Hyperrationalität. Menschen handeln beim Einkaufen oft nach ›Gefühl‹. Gefühle kennen weder Computerspiele noch die Mathematik. Vor allem aber ist ein optimal funktionierender Markt davon abhängig, dass die Menschen im Markt nicht unvernünftig, sondern äußerst rational handeln. Deshalb rechnen die Menschen im vollkommenen Markt immer genau aus, welche Käufe und Verkäufe ihre Wünsche (Präferenzen) am besten erfüllen. Da es tausende von Möglichkeiten gibt, Güter zu kaufen, hat Michael einen Art Wünsche-Supercomputer im Kopf, der ihm jederzeit genau berechnen kann, welche Kombination an Gütern seine Wünsche am besten erfüllt. Er lässt sich dabei auch von niemandem beeinflussen. Weder von suggestiver Werbung, noch von dem nächsten Run auf das neuste Smartphone. Michael ist also eine Art autistischer Wünsche-Supercomputer. Die Anbieter haben den Wunsch, ihren Gewinn zu maximieren, die Nachfrager den Wunsch, ihren Nutzen zu maximieren. Ein Mensch, der so handelt, wird auch als ›Homo oeconomicus‹ bezeichnet.
- Vollständige Information. Alle Marktteilnehmer wissen über alle Preise, Mengen und Produkte genau Bescheid, darüber hinaus aber auch über alle anderen Sachverhalte und Ereignisse, die für ihr Handeln im Markt relevant sind. Würden beispielsweise die Nachfrager auf dem Bauernmarkt nur einen einzigen Stand kennen, hätte dieser wiederum eine Art Monopol. Die vollständige Information betrifft nicht nur die Vergangenheit und die Gegenwart, sondern auch die Zukunft. Im vollkommenen Markt sind deshalb keine Handlungen, Produkte oder Berufe notwendig, die Informationen vermitteln. Es gäbe beispielsweise keine Beratungen in Unternehmen, keine Messeausstellungen, keine Werbung, keine Immobilienmakler, keine Ratingagenturen und keine Unternehmens- oder Vermögensberater. Auch zwischen verschiedenen Staaten müssten keine Informationen ausgetauscht werden, da in einer global organisierten Wirtschaft das vollständige Wissen über einen nationalen Markt vom Wissen über die gesamte Weltwirtschaft abhängt.
- Unendlich schnelle Reaktion. Bis sich ein Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage eingestellt hat und ein Monopol verschwunden ist, könnten im Prinzip Jahre vergehen. Deshalb wird meist vorausgesetzt, dass Anbieter und Nachfrager unendlich schnell auf Änderungen von Preisen reagieren.
- Keine Transaktionskosten. In der Realität spielt beim Kauf von Waren oft eine Rolle, ob der Anbieter in der Nähe ist oder ob man weit fahren muss, wie teuer der Versandt wäre, usw. Auch das könnte die vollkommene Konkurrenz einschränken. Ein Anbieter könnte durch einen besonders guten Standort einen großen Vorteil haben. Deshalb nimmt man an, dass es keine Transportwege- oder Kosten gibt. Der Markt ist so groß wie ein Punkt ohne Ausdehnung.«
»Diese Voraussetzungen sind in der Tat sehr unrealistisch.«
»Wie kommen darauf zurück. Als nächstes sollten wir klären, wie das Gleichgewicht im Markt zustande kommt. In unserem Beispiel hatte ja Bauer Andreas anfangs noch ein Monopol. Auch dann besteht in dem Markt ein Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage, das allerdings nicht pareto-optimal ist. Wenn weitere Bauern hinzukommen, stellt sich ein neues, optimaleres Gleichgewicht ein. Aber wie kommt dieses Gleichgewicht zustande?«
Der Weg zum allgemeinen Gleichgewicht
»Ich denke, dass die Anbieter und Nachfrager sich nach und nach aneinander anpassen. Stellen die Bauern zu viel her, werden sie ihre Menge an Kartoffeln reduzieren. Wenn sie ihre Ware nicht loswerden, können sie alternativ auch den Preis senken. Bei niedrigeren Preisen werden die Nachfrager vermutlich mehr kaufen.«
»Anbieter und Nachfrager passen sich aneinander an, das ist richtig. Allerdings verändern sie nur die Mengen an Gütern, die sie anbieten oder nachfragen. Auf den Preis haben sie keinen Einfluss, er wird ›vom Markt vorgegeben‹, wie es in neoklassischen Lehrbüchern heißt. Anbieter und Nachfrager ›bewegen‹ sich also auf ein Gleichgewicht zu, indem sie die Mengen anpassen. Schauen wir uns zunächst das Verhalten der Nachfrager genauer an. Wie du schon gesagt hast, werden die Nachfrager bei einem niedrigeren Preis mehr von einem Produkt kaufen. Mankiw erläutert das in seinem Lehrbuch am Beispiel von Eis. Wie verhalten sich Schüler, wenn der Eisverkäufer den Preis für seine Kugeln von einem Euro auf 50 Cent senkt? Und wie, wenn er sie um 50 Cent verteuert?«
»Wenn die Kugeln billiger werden, werden sie mehr kaufen, wenn sie teurer werden, weniger.«
»Sie kaufen je mehr, je billiger das Eis ist. Sie fordern sozusagen einen Mengenrabatt. Ein Schüler, nennen wir ihn Leon, würde beispielsweise bei einem Preis von einem Euro pro Kugel drei Kugeln, bei 50 Cent pro Kugel aber ganze fünf Kugeln kaufen. Wenn du möchtest, kannst du dir das auch graphisch durch eine Linie im Koordinatensystem veranschaulichen. Die Linie startet im Koordinatensystem links oben bei einem hohen Preis und der geringsten möglichen Menge. Mit sinkendem Preis steigt die gekaufte Menge. Die Linie bewegt sich also nach rechts unten. Je billiger, je mehr. Das scheint selbstverständlich zu sein. Allerdings ist die Erklärung dafür durchaus nicht selbstverständlich. Denn wenn Leon das Eis schmeckt und er es sich leisten kann, warum kauft er dann nicht auch bei einem höheren Preis schon fünf Kugeln? In neoklassischen Lehrbüchern findet man folgende Erklärung, die ich allerdings sehr vereinfacht darstelle: Der Genuss lässt mit der Menge nach. Irgendwann ist Leon schlecht. Sein Wünsche-Supercomputer sagt ihm deshalb, dass er bei einem Preis von einem Euro pro Kugel nach drei Kugeln aufhören und das übrige Geld für ein Computerspiel sparen sollte. Das bringt ihm mehr Nutzen als fünf Kugeln, für die er fünf Euro bezahlen müsste.«
»Bei Eiskugeln verstehe ich das. Aber würde Dagobert Duck seinen Geldspeicher mit Gold füllen, würde er nicht sagen, dass der Nutzen abnimmt, je mehr er hat. Je mehr Geldspeicher er hat, desto geiler fühlt er sich. Er ist zwar kein Mensch, aber wer Reichtümer ansammeln möchte, empfindet doch eher so. Um eine Sammlung teurer Gemälde komplett zu machen, würden manche sicher auch einen steigenden Preis akzeptieren.«
»In der Ökonomie gibt es tatsächlich solche Fälle. Diese Nachfrager verhalten sich anders als die Eiskäufer: Bei steigendem Preis sinkt ihre Nachfrage nicht. Sie kaufen immer noch die gleiche Menge oder sogar mehr. Dies zeigt noch einmal, dass die Wirklichkeit komplex ist und Modelle sehr kompliziert würden, wenn man all diese Falle einbezieht. Die Frage ist, ob stark vereinfachte Modelle die Funktionsweise der Wirtschaft noch korrekt beschreiben. Darauf kommen wir noch zu sprechen. Jetzt aber zur Frage: Wie verhalten sich die Anbieter? Das erste was wir in vielen Lehrbüchern lernen ist: Je mehr sie anbieten, desto teurer muss das Produkt sein. Dieses Verhalten hat mit den Gewinnaussichten zu tun. Mankiw nennt zwei Eisverkäufer als Beispiel: Je teurer sie ihre Kugeln verkaufen können, je mehr Kugeln würden sie auf dem Markt anbieten. In unserem Koordinatensystem verläuft die Linie der Anbieter deshalb von links unten nach rechts oben: mit steigendem Preis steigt die verkaufte Menge.«
»Aber jeder Eisverkäufer würde sein Angebot vergrößern, wenn er nur sicher sein kann, dass es gekauft wird. Ob er einen höheren Preis verlangen kann oder nicht. Je mehr er produziert, je eher könnte er seinen Preis sogar senken, wie das in der Massenproduktion der Fall ist. Die ersten Handys waren super teuer. Heute sind einfache Handys spottbillig.«
»Wenn er seinen Preis senken kann, würde die Angebotskurve sogar fallen: Mit sinkendem Preis steigt die angebotene Menge. Die Idee, dass der Preis mit der Angebotsmenge steigen muss, geht auf Ökonomen der Klassik zurück. Sie glaubten, dass ein Bauer, wenn er seine Produktion vergrößert, schlechtere Böden bewirtschaften muss. Denn die besten Böden hat er natürlich als Erstes bewirtschaftet. Schlechtere Böden bedeuten aber höhere Produktionskosten. Er kann sein Angebot also gar nicht vergrößern, ohne den Preis zu erhöhen. Auch Mankiw verwendet diese Begründung. Diese Voraussetzung trifft sicher ebenfalls kaum allgemein zu. Neoklassische Modelle mit dieser Voraussetzung sind also ebenfalls eine Vereinfachung der Realität. Wenn wir aber annehmen, dass Anbieter je mehr anbieten, je höher der Preis ist und die Nachfrager je mehr kaufen, je niedriger der Preis ist, haben wir jetzt das berühmte Marshallkreuz: zwei gegenläufige Linien im Koordinatensystem.«
»Haben wir im Unterricht schon gehabt. Die Nachfragekurve sinkt mit der Menge, die Angebotskurve steigt mit der Menge. Der Schnittpunkt von beiden ist das Gleichgewicht, bei dem Angebot und Nachfrage sich ausgleichen. Ist damit bewiesen, dass es im Markt ein optimales Gleichgewicht gibt?«
»Ganz so einfach ist es nicht. Unter anderem musst du folgendes bedenken: Wir haben bis jetzt nur den Markt für Güter wie Kartoffeln oder Autos angesehen. Es gibt in der Wirtschaft aber auch ganz andere Märkte: Den Arbeitsmarkt, den Markt für Produktionsmittel oder den Markt für Kredite. Wenn man beweisen möchte, dass eine Marktwirtschaft zu einem optimalen Gleichgewicht tendiert, muss man alle Märkte einbeziehen. Es könnte nämlich sein, dass die verschiedenen Märkte sich gegenseitig ins Ungleichgewicht bringen.«
»Und? Gibt es einen solchen Beweis?«
»Die Wirtschaftswissenschaftler Kenneth Arrow und Gerard Debreu haben bereits vor einigen Jahrzehnten tatsächlich bewiesen, dass es ein allgemeines Gleichgewicht gibt. Es beruht aber wie schon gesagt auf sehr speziellen Voraussetzungen. Gerard Debreu hat allerdings mit anderen Wissenschaftlern auch gezeigt, dass es auch unter sehr speziellen Voraussetzungen kein Beweis dafür gibt, dass das Gleichgewicht stabil ist. Wenn eine Wirtschaft ins Ungleichgewicht gerät, gibt es also keine Garantie dafür, dass sie ins Gleichgewicht wieder zurückfindet. Wie du gesehen hast, können sich Anbieter und Nachfrager sehr unterschiedlich verhalten und damit das System durcheinanderbringen. Das ist einer der Gründe für dieses Problem. Es gibt aber einen einfachen Weg dieses Problem zu vermeiden: Man nimmt in dem Modell einfach an, dass es nur einen einzigen Agenten in der gesamten Wirtschaft gibt. Heute sehr gebräuchliche Gleichgewichtsmodelle dieser Art sind sogenannte DSGE-Modelle, mit denen auch Zentralbanken arbeiten. In diesen Modellen gehören einem einzigen repräsentativen Agenten alle Unternehmen, er ist aber zugleich ihr einziger Angestellte und der einzige Konsument. In diesem Modell gibt es dann ein stabiles, optimales Gleichgewicht.«
»Ein einziger Agent! Der gleichzeitig Unternehmer, sein eigener Angestellter und Konsument ist. Das könnte vielleicht für Robinson Crusoe passen, aber für die Darstellung einer Marktwirtschaft ist das in der Tat sehr unrealistisch.«
»Deshalb sollten wir uns das nächste Mal mit der Frage befassen, wie neoklassische Ökonomen damit umgehen.«
Erfahren Sie im nächsten Artikel, wie Neoklassiker den empirischen Gehalt ihrer Theorie begründen, warum es im vollkommenen Markt keine Arbeitslosigkeit gibt und warum für Neoklassiker auch in einer Geldwirtschaft kein Nachfrageproblem existiert.
Dieser Text ist ein Kapitel aus dem Buchprojekt »Thinking for Future«, das die politische Philosophie und angrenzende Sozialwissenschaften thematisiert.