Intermediations-Theorie

Wirtschaftsnobelpreis 2022 – Eine spektakuläre Fehlentscheidung

| 13. Dezember 2022
Ben S. Bernanke

Die „Lindauer Nobelpreistagungen“ sind voll des Lobes für die diesjährigen sogenannten Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften. Sie hätten genauer hinschauen sollen. Es handelt sich – nicht zum ersten Mal – um einen grandiosen Fehlgriff.

Die renommierten Lindauer Nobelpreistagungen (Lindau Nobel Laureate Meetings), die nach eigenem Bekunden seit 1951 „für den Austausch zwischen verschiedenen Generationen, Wissenschaftsdisziplinen und Kulturen“ stehen und nach Wikipedia „einen besonderen Platz unter den internationalen Wissenschaftskonferenzen“ einnehmen, haben vor einigen Tagen einen Beitrag zu den Leistungen der diesjährigen Wirtschaftsnobelpreisträger veröffentlicht: Douglas W. Diamond, Philip H. Dybvig und Ben S. Bernanke, die sich den „Preis der Sveriges Riksbank für Wirtschaftswissenschaften 2022“ teilen, hätten „die Auszeichnung für ihre Arbeit zum Thema Banken, insbesondere ihre Rolle in Finanzkrisen“ erhalten.

Der Autor Phil Thornton behauptet in dem Blogartikel der Lindauer Tagungen, dass Diamond und Dybvig mit ihren theoretischen Erkenntnissen zur Rolle der Banken und deren Anfälligkeit den Grundstein für eine zeitgemäße Bankenregulierung gelegt hätten, während Bernanke gezeigt habe, wie die Regulierung versagen könne und wie einer drohenden Panik entgegenzuwirken sei. Die drei Ökonomen hätten nachgewiesen, „wie wichtig es ist, den Zusammenbruch von Großbanken zu verhindern, insbesondere während Finanzkrisen.“

Thornton zitiert zustimmend aus einem Beitrag von John Turner und Anil Kashyap, die zu der Auszeichnung der drei Ökonomen anmerken:

„Ihre Forschung hat unser Verständnis der Rolle der Banken – in normalen Zeiten und in Krisen – erheblich verbessert.“

Die Banken-Intermediations-Theorie

Ähnlich wie die Lindauer Nobelpreistagungen hatte zuvor schon die Schwedische Akademie der Wissenschaften die Bedeutung der Forschung der drei Nobelpreisträger darin gesehen, dass sie die Grundlagen für ein besseres Verständnis von Banken, Bankenregulierung, Bankenkrisen und des Umgangs mit Finanzkrisen gelegt hätten. Die Akademie beschreibt die Theorie, die den Arbeiten von Diamond, Dybvig und Bernanke zugrunde liegt, wie folgt:

„Um zu verstehen, warum eine Bankenkrise solch enorme Folgen für die Gesellschaft haben kann, müssen wir wissen, was Banken tatsächlich tun: Sie erhalten Geld von den Einlegern und leiten es an die Kreditnehmer weiter.“[1]

Ökonomen unterschiedlicher Couleur waren sich sehr lange einig in diesem Verständnis der Funktionsweise von Banken: So steht nach Ansicht des Monetaristen Milton Friedman die Geldmenge unter der Kontrolle der Zentralbank und die Aktivitäten der privaten Banken könnten ignoriert werden, da Letztere lediglich als Vermittler zwischen Sparern und Kreditnehmern agierten. Ähnlich argumentiert der als eher „links“ geltende Neu-Keynesianer Paul Krugman, der Banken als Intermediäre sieht zwischen „geduldigeren Menschen“, die eine Rendite auf ihr Erspartes erzielen wollen, und "weniger geduldigen Menschen", die zu einem bestimmten Zeitpunkt mehr ausgeben möchten, als sie einnehmen:

„Man muss sich das so vorstellen: Wenn die Verschuldung steigt, ist es nicht die Volkswirtschaft als Ganzes, die sich mehr Geld leiht. Vielmehr ist es so, dass weniger geduldige Menschen – Menschen, die aus welchem Grund auch immer lieber früher als später Geld ausgeben wollen – Geld von geduldigeren Menschen leihen. Die wichtigste Grenze für diese Art der Kreditaufnahme ist die Sorge der geduldigen Kreditgeber, ob sie ihr Geld zurückbekommen werden, was eine Art Obergrenze für die Kreditaufnahme jedes Einzelnen setzt.“[2]

In dieser Vorstellung wird bei der Kreditvergabe einfach vorhandenes Geld von einer Gruppe von Personen zu einer anderen Gruppe „verschoben“: Die Banken sammeln Einlagen von Kunden ein und geben sie dann als Kredite an andere Kunden weiter.

Die Schwedische Akademie der Wissenschaften verweist nun in ihrem Beitrag auf einen gemeinsamen Artikel von Diamond und Dybvig von 1983[3], in dem die beiden erklären, wie Banken mit diesem Vorgehen die Interessen von Investoren – die sich bei Aufnahme eines Kredits zur Finanzierung einer langfristigen Investition darauf verlassen können müssen, dass der Kreditgeber nicht plötzlich sein Geld zurückverlangt – und Sparern – die zumindest einen Teil ihres Ersparten sofort für unerwartete Ausgaben zur Verfügung haben möchten – in Übereinstimmung bringen: Sie bieten Konten an, auf die Sparer respektive private Haushalte ihr Geld einzahlen, aber jederzeit wieder abheben können, und verleihen anschließend das Geld für langfristige Projekte. Die Banken sind in dieser Vorstellung Intermediäre, die Vermögenswerte mit langer Laufzeit in Bankkonten mit kurzer Laufzeit umwandeln, was üblicherweise als Fristentransformation bezeichnet wird.

Auch zahlreiche andere, von der Schwedischen Akademie (mit einer Ausnahme) in dem hier zitierten Papier nicht erwähnte und von den beiden Preisträgern getrennt verfasste Publikationen basieren – bei unterschiedlichen Fragestellungen – auf dieser Intermediations-Theorie.[4]

Bernanke: Anderer Schwerpunkt, gleiche Theorie

Ben Bernankes Untersuchungsgegenstand war vor allem die Große Depression – der tiefste und längste Wirtschaftseinbruch in der jüngeren Geschichte, der in den USA begann und sich dann global ausweitete. In einem Artikel mit dem Titel The Debt-Deflation Theory of Great Depressions hatte Irving Fisher in den 1930er Jahren argumentiert, dass die Ursache großer Depressionen „eine Überschuldung zu Beginn und eine bald danach folgende Deflation“ sei.[5] Fisher bezeichnete den Prozess, durch den eine große Depression ausgelöst wird, als „Schuldendeflation“. Bernanke war mit dieser Interpretation nicht einverstanden. In seinem Buch „Essays on the Great Depression“ stellt er fest, dass Fishers Diagnose zwar die damalige Politik Präsident Roosevelts beeinflusst habe, weniger jedoch die Wissenschaft:

„Fishers Idee war jedoch in akademischen Kreisen weniger einflussreich – wegen des Gegenarguments, dass eine Schuldendeflation nicht mehr als eine Umverteilung von einer Gruppe (den Schuldnern) zu einer anderen (den Gläubigern) darstelle. Ohne unplausibel große Unterschiede in der marginalen Ausgabenneigung zwischen den Gruppen, so wurde argumentiert, sollten reine Umverteilungen keine signifikanten makroökonomischen Effekte haben.“[6]

Mit "reiner Umverteilung" meint Bernanke offenbar, dass bei der Kreditvergabe und der Rückzahlung von Schulden Geld von einer Gruppe zu einer anderen transferiert wird: Im Falle der Kreditvergabe erfolgt dies vom Sparer zum Kreditnehmer und im Falle der Rückzahlung vom Kreditnehmer zum Sparer, ohne dass die Gesamtmenge des angewendeten Geldes beeinflusst wird. In dieser Logik sind daher die makroökonomischen Auswirkungen einer "Schuldendeflation" unter normalen Umständen gering. Das erscheint wenig plausibel, denn Schuldner gehen während einer Schuldendeflation bankrott und können daher ihre Schulden nicht zurückzahlen. Es handelt sich mithin nicht um eine „Umverteilung“, sondern um einen eindeutigen Rückgang des Vermögens und der Kaufkraft insgesamt.

Interessant ist aber in diesem Zusammenhang vor allem ein anderer Aspekt: Auch Bernanke stützt sich offenkundig auf die Theorie, dass Banken lediglich als Finanzintermediäre zwischen Sparern und Kreditnehmern fungieren – also auf die gleiche Idee, die Diamonds und Dybvigs Ehrung mit dem Wirtschaftsnobelpreis zugrunde liegt. Dies wird auch in einem anderen Beitrag Bernankes[7] deutlich, in dem er zwar oft den Begriff „Kreditschöpfung“ verwendet, diesen aber definiert als „den Prozess, bei dem […] die Ersparnisse bestimmter Einzelpersonen oder Unternehmen anderen Einzelpersonen oder Unternehmen zur Nutzung zur Verfügung gestellt werden (zum Beispiel für Kapitalinvestitionen oder einfach zum Konsumieren)“, also als den „Prozess, durch den Ersparnisse alternativen Verwendungen zugeführt werden"[8]. Damit aber kann nur die finanzielle Intermediation von Einlagen der Sparer in Kredite gemeint sein.

Festhalten an einer überholten Theorie

Es ist mehr als befremdlich, dass der Ökonomie-Nobelpreis an Vertreter der traditionellen Banken-Intermediations-Theorie geht, die zweifelsfrei als längst überholt gelten muss. Mittlerweile ist – unter anderem – in verschiedenen Zentralbank-Publikationen gezeigt worden, dass Banken eben nicht als Finanzintermediäre die Ersparnisse ihrer Kunden weiterverleihen, sondern Einlagen per Buchungssatz erzeugen.[9]

Selbst die konservative Deutsche Bundesbank ist inzwischen von der Bank-Intermediations-These abgerückt und nennt es „einen weitverbreiteten Irrtum, wonach die Bank im Augenblick der Kreditvergabe nur als Intermediär auftritt, also Kredite lediglich mit Mitteln vergeben kann, die sie zuvor als Einlage von anderen Kunden erhalten hat.“[10] Und:

„Tatsächlich wird bei der Kreditvergabe durch eine Bank stets zusätzliches Buchgeld geschaffen. Die weitverbreitete Vorstellung, dass eine Bank ‚auch altes, schon früher geschöpftes Buchgeld, z.B. Spareinlagen, weiterreichen‘ (könne), […] trifft nicht zu.“[11]

Wir haben seit vielen Jahren auf Makroskop (zum Beispiel hier, hier oder hier) – aber auch an anderer Stelle[12] – immer wieder die Banken-Intermediations-Theorie kritisiert und möchten das hier nicht im Detail wiederholen. Da die jetzige Nobelpreis-Ehrung zeigt, dass diese verfehlte Theorie anscheinend extrem zählebig ist, sollen aber zumindest die wichtigsten Kritikpunkte noch einmal angeführt werden.

Geschäftsbanken unterscheiden sich von gewöhnlichen Geldverleihern

Zum einen ignoriert die Banken-Intermediations-Theorie, dass Bankeinlagen für eine Bank aus einer bilanziellen Perspektive Verbindlichkeiten darstellen, die in der Bankbilanz auf der Passivseite verbucht werden.[13] Wie sollte da eine Kreditvergabe als Finanzintermediär buchungstechnisch ablaufen? Die Bank kann ja nicht einfach entsprechende Umbuchungen auf den Bankkonten ihrer Kunden vornehmen, also beispielsweise ihre Verbindlichkeiten (Bankeinlagen) gegenüber dem Kunden A reduzieren und die entsprechende Summe als Kredit auf das Konto des Kunden B übertragen. Wenn Banken tatsächlich Geld verleihen würden, das sie zuvor von Sparern erhalten haben, müsste dieses Geld auf der Aktivseite ihrer Bilanzen stehen. Jede Kreditvergabe würde dann lediglich zu einem Aktivtausch führen. Eine Bank hätte zunächst Geld als Vermögenswert in ihrer Bilanz und nach Auszahlung des Kredits stattdessen eine Forderung gegenüber dem Kreditnehmer.

Letztendlich unterstellt also die Intermediations-Theorie, dass sich Geschäftsbanken nicht von privaten Geldverleihern unterscheiden und sie deshalb auch genauso agieren, indem sie in einem Aktivtausch die Einlagen ihrer Kunden weiterverleihen. Dies aber ist – wie gesagt – nicht möglich, da bei den Banken die Kundeneinlagen auf der Passivseite bilanziert sind. Dass die Gleichsetzung von modernen Geschäftsbanken und einfachen Geldverleihern falsch ist, hatte der bedeutende US-amerikanische Ökonom Hyman Minsky bereits vor einigen Jahrzehnten klar und unmissverständlich festgestellt:

“Banken sind gerade deshalb so wichtig, weil sie nicht unter der Restriktion eines Geldverleihers arbeiten – Banken müssen kein Geld zur Verfügung haben, um Geld verleihen zu können.“[14]

Der Mythos des Geldschöpfungsmultiplikators

Nicht zutreffend ist zweitens die Vorstellung, dass die Zentralbank die Menge der Kredite und Einlagen in der Volkswirtschaft durch die Steuerung der Zentralbankgeldmenge bestimmt, wie dies im sogenannten "Geldschöpfungsmultiplikator"-Ansatz unterstellt wird. Nach dieser Auffassung führen die Zentralbanken die Geldpolitik durch die Wahl einer bestimmten Menge an Reserven (elektronischem Zentralbankgeld) durch. Die Kreditvergabe jeder Bank schafft dabei Geld in einem iterativen, also sich wiederholenden Prozess, an dem mehrere Banken beteiligt sind, während der Umfang der Geldschöpfung weitgehend von der Zentralbank festgelegt wird. Mit anderen Worten: Der Zentralbank kommt die entscheidende Rolle bei der Bestimmung der Geldmenge zu.

Das Konzept des Geldschöpfungsmultiplikators wird häufig dafür kritisiert, dass es den Geschäftsbanken nur eine untergeordnete, weitgehend passive Funktion zuschreibt.[15] Es ist aber bereits auf einer viel elementareren Ebene nicht haltbar, da es unterstellt, dass die Geschäftsbanken ihre Reserven an Produktionsunternehmen oder private Haushalte (weiter-) verleihen können. Das aber ist schlicht unmöglich, weil Nichtbank-Unternehmen und Privathaushalte über keine Konten bei der Zentralbank verfügen.[16] Reserven werden nur auf Konten bei der Zentralbank gehalten und daher allein zwischen Banken verliehen (sie verlassen nie den Bereich der Zentralbankkonten). Einlagen der Geschäftsbanken bei der Zentralbank und Einlagen von Kunden bei den Geschäftsbanken zirkulieren in getrennten Systemen.[17] Vollkommen zu Recht stellt beispielsweise die Bank of England, die britische Zentralbank, zum Geldschöpfungsmultiplikator-Modell fest:

„[…] dieses ignoriert, dass Zentralbankgeld entweder gar nicht an Nichtbanken verliehen werden kann (Reserven) oder nicht an Nichtbanken verlieren wird (Bargeld).“[18]

Banken sind Geldschöpfer, nicht reine Finanzintermediäre

Drittens ist in der Intermediärs-Theorie die Kreditvergabe der Banken von der Bereitschaft des Publikums abhängig, ihnen erspartes Geld zur Verfügung zu stellen. Die Sparentscheidungen vor allem der privaten Haushalte schafften Einlagen und die Banken vergäben dann diese bestehenden Einlagen als Kredite. Je mehr die Einleger Konsumverzicht leisteten und stattdessen bei ihren Banken sparten, desto mehr Kredite könnten die Banken gewähren.

Das aber kann so nicht stimmen: Wenn sich tatsächlich alle privaten Haushalte dazu entschließen, weniger zu konsumieren und mehr Geld auf Bankkonten zu sparen, gehen diese Einlagen zulasten von Einlagen, die ansonsten zur Bezahlung gekaufter Güter an Unternehmen gegangen wären.[19] Das Sparen erhöht also keineswegs automatisch die Bankeinlagen insgesamt oder die – in dieser Vorstellung – den Banken für die Kreditvergabe zur Verfügung stehenden Geldmittel. Eine steigende kreditfinanzierte Gesamtnachfrage lässt sich in dieser Logik nicht herleiten.

Die Realität sieht ganz anders aus: Wie Hyman Minsky bereits in den 1960er Jahren erkannt hatte, schaffen Bankkredite Geld und dieses Geld erhöht, wenn es ausgegeben wird, die Gesamtnachfrage. Etwas genauer: Damit die reale Gesamtnachfrage steigen kann, ist es nach Minsky zwingend geboten, dass „die gegenwärtig geplanten Ausgaben, summiert über alle Wirtschaftssektoren, größer sind als das gegenwärtig erhaltene Einkommen und dass ein Marktmechanismus (market technique) existiert, der es ermöglicht, die Gesamtausgaben, die über das gesamte erwartete Einkommen hinausgehen, zu finanzieren.“[20] Dieser von Minsky genannte Marktmechanismus ist der Geldschöpfungsprozess der Banken, der die Schaffung von neuem Geld impliziert.

Interessant ist in diesem Zusammenhang auch eine Erkenntnis des US-Ökonomen Evsey Domar, der schon 1957 zum Zusammenhang zwischen der Finanzierung von Investitionen und der erforderlichen Geldschöpfung feststellte (ohne dies allerdings näher auszuführen): „Die Investitionen von heute müssen immer die Ersparnisse von gestern übersteigen. […] Eine Zuführung von neuem Geld […] muss jeden Tag stattfinden.“[21] Es ist bedauerlich, dass solche wichtigen Einsichten in der Folgezeit verloren gingen.

Banken sind eben keine reinen Finanzintermediäre zwischen Sparern und Investoren. Vielmehr schafft eine Bank bei der Kreditvergabe Geld „aus dem Nichts“, indem sie auf der Aktivseite ihrer Bilanz ein Darlehen einbucht und auf der Passivseite auf dem Girokonto des Darlehensnehmers eine betragsmäßig gleich hohe Gutschrift. Mit anderen Worten: Es kommt durch die Kreditvergabe der Bank zu Geldschöpfung – verbunden mit einer sogenannten Bilanzverlängerung, einem neuen Eintrag sowohl auf der Aktiv- als auch auf der Passivseite. Die vergebenen Kredite der Banken manifestieren sich mithin als Bankeinlagen, was dazu führt, dass die Geldmenge expandiert. Umgekehrt schrumpft die Geldmenge, wenn die Kredite zurückgezahlt werden. Es ist also keineswegs so, dass die Geldschöpfung der Banken zu einer ständig wachsenden Geldmenge führt, wie manchmal fälschlicherweise angenommen wird: Sobald die Kreditnehmer ihre Schulden bei den Banken zurückzahlen, wird das ursprünglich geschaffene Geld vernichtet. Minsky fasst dies kurz und knapp so zusammen:

„Geld wird geschaffen, wenn die Banken Kredite vergeben – hauptsächlich an Unternehmen – und Geld wird vernichtet, wenn Kreditnehmer ihre Zahlungsverpflichtungen gegenüber den Banken erfüllen.“[22]

Die traditionelle Lehre ist auch empirisch widerlegt

Auch die Empirie belegt, dass Banken keine bloßen Finanzintermediäre sind, sondern vielmehr bei der Kreditvergabe in actu Geld schaffen. Was in einer Bank und ihren Büchern geschieht, wenn ein Kredit vergeben wird, wurde erstmalig im August 2013 von Richard Werner, Professor für Bankwesen in Southampton, exakt und detailliert geprüft und dokumentiert.[23] Die empirische Prüfung erfolgte in Form des Abschlusses eines Kreditvertrages bei der in einer Stadt Niederbayerns gelegenen Raiffeisenbank Wildenberg e.G.  Der Forscher nahm dort persönlich einen Kredit über 200.000 Euro auf und die kreditvergebende Bank legte ihre relevante interne Buchhaltung beziehungsweise die übliche interne Vorgehensweise bei ihrem Kreditvergabeverfahren offen.[24]

Insgesamt zeigte die empirische Untersuchung, dass die Bank im Prozess der Bereitstellung von Geld auf dem Bankkonto des Kreditnehmers das Geld nicht von anderen internen oder externen Konten transferierte, also keine Überweisungen oder Kontodispositionen vornahm, um die Kreditsumme auf dem Konto des Kreditnehmers zu „finanzieren“. Stattdessen erzeugte die Bank die Geldmittel neu, indem sie dem Kreditnehmer den gewährten Geldbetrag auf dessen Girokonto als Einlage gutschrieb, obwohl niemand vorab eine solche Einlage getätigt hatte. Dieses Ergebnis steht im Einklang mit der Kreditschöpfungstheorie, nach der die einzelnen Banken kein bereits existierendes Geld verleihen, sondern neues Geld „aus dem Nichts“ schaffen.

Kreist die Sonne um die Erde?

Es dürfte unmittelbar einsichtig sein, dass eine überholte Geldtheorie respektive ein falsche Auffassung über die Funktionsweise von Banken nicht zu einem besseren Verständnis der Rolle von Banken in der Volkswirtschaft, der Bankenregulierung oder von Banken- und Finanzkrisen beitragen kann, wie die Lindauer Nobelpreistagungen oder die Schwedische Akademie der Wissenschaften offenbar meinen. Aus diesem Grund wird hier auch auf eine Auseinandersetzung mit den angeblichen Erkenntnissen, die sich aus den Arbeiten von Diamond, Dybvig und Bernanke für diese und andere Probleme gewinnen lassen, verzichtet.

Immerhin gibt es hierzulande neben viel Lob auch einige kritische Stimmen zur Entscheidung des Nobelpreisgremiums. Hervorzuheben ist ein ausgezeichneter Blog-Beitrag von Norbert Häring, der auch eine Stellungnahme des früheren Wirtschaftsweisen Peter Bofinger wiedergibt. Bofinger sieht danach die falsche Vorstellung, dass die Banken nur das Geld von Einlegern weiterverliehen, als mitverantwortlich für die zahlreichen Finanzkrisen der letzten Jahrzehnte. Bofinger begründet seine Kritik wie folgt:

„Die Sparer können keine Kreditblase verursachen, über die zu viel Geld in Umlauf kommt. Das können nur Banken im Wege der exzessiven Kreditgewährung. Aber diese Gefahr war wegen einer falschen Geldtheorie nicht richtig auf dem Schirm der Entscheidungsträger.“

In der Tat: Wenn – wie von der nun prämierten Theorie behauptet – die Zentralbank die dominierende Rolle in der Bestimmung der Geldmenge einnimmt und Banken nur als Finanzintermediäre bereits vorhandenes Geld zwischen verschiedenen Personengruppen hin- und herschieben (indem sie Einlagen von den einen Kunden entgegennehmen und sie dann als Kredite an andere Kunden weiterreichen), ist vollkommen unverständlich, wie Kreditblasen und damit zu viel umlaufendes Geld entstehen sollen. Man könnte ergänzen: Auch dass Banken ihr Geldschöpfungsprivileg und ihre Zugangsmöglichkeit zu Zentralbankreserven nutzen, um mit selbst produziertem Geld an den Finanzmärkten zu spekulieren, wäre dann von vornherein ausgeschlossen (In der Realität findet dies jedoch statt).

Bofingers auch vom Handelsblatt zitierte, abschließende Bewertung der Preisvergabe lautet: „Das ist etwa so, als wenn man Ptolemäus mit dem Physik-Nobelpreis für die Erkenntnis ehren würde, dass die Sonne um die Erde kreist.“

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[1] The Royal Swedish Academy of Sciences: The laureates explained the central role of banks in financial crises, 2022, S. 3. Alle englischsprachigen Zitate sind hier und im Folgenden ins Deutsche übersetzt.
[2] Krugman, P.: End This Depression Now!, New York/London 2012, S. 146f.
[3] Diamond, D.W./Dybvig, P.H.: Bank Runs, Deposit Insurance, and Liquidity, in: Journal of Political Economy, Vol. 91, No. 3, 1983, S. 401-419.
[4] Vgl. z.B. Diamond, D.W.: Financial Intermediation and Delegated Monitoring, in: The Review of Economic Studies, Vol. 51(3), 1984, S. 393-414; Diamond, D.W.: Monitoring and Reputation: The Choice between Bank Loans and Directly Placed Debt, in: Journal of Political Economy, Vol. 99(4), 1991, S. 689-721; Diamond, D.W.: Financial Intermediation as Delegated Monitoring: A Simple Example, in: FRB Richmond Economic Quarterly, Vol. 82(3), 1996, S. 51-66; Diamond, D.W.: Liquidity, Banks, and Markets, in: Journal of Political Economy, Vol. 105(5), 1997, S. 928-956; Diamond, D.W.: Banks and Liquidity Creation: A Simple Exposition of the Diamond-Dybvig-Model, in: FRB Richmond Economic Quarterly, Vol. 93(2), 2007, S. 189-200; Dybvig, P.H.: Remarks on Banking and Deposit Insurance, in: Federal Reserve Bank of St. Louis Review, Vol. 75(1), 1993, S. 21-24.
[5] Fisher, I.: The Debt-Deflation Theory of Great Depressions, in: Econometrica, Vol. 1(4), 1933, S. 337-357 (übersetztes Zitat S. 341).
[6] Bernanke, B.S.: Essays on the Great Depression, Princeton 2000, S. 24.
[7] Bernanke, B.S.: Credit in the Macroeconomy, in: FRBNY Quarterly Review, Spring 1993, S. 50-70.
[8] Bernanke, B.S., ebenda, S. 50.
[9] Vgl. z.B. McLeay, M./Radia, A./Thomas, R.: Money creation in the modern economy, in: Quarterly Bulletin 2014  Q1, S.14-27; Jakab, Z./Kumhof, M.: Banks are not intermediaries of loanable funds – facts, theory and evidence, Bank of England, Staff Working Paper No. 761, June 2019.
[10] Deutsche Bundesbank: Die Rolle von Banken, Nichtbanken und Zentralbank im Geldschöpfungsprozess, in: Monatsbericht April 2017, S. 20.
[11] Deutsche Bundesbank: Häufig gestellte Fragen zum Thema Geldschöpfung, Frankfurt am Main.
[12] Vgl. z.B. Grunert, G. (2013): Eurokrise und kein Ende – Spanien im freien Fall, NachDenkSeiten, 15. Januar
[13] Es handelt sich jedoch etwa bei Giroguthaben nicht um Verbindlichkeiten, die mit denen aus Kreditbeziehungen vergleichbar sind. Vgl. dazu hier.
[14] Minsky, H.P.: Stabilizing an Unstable Economy, New Haven and London, 1986, S. 249.
[15] Die Banken spielen in diesem Modell nur insofern eine aktive Rolle, als sie über die Fähigkeit verfügen, einen höheren Anteil ihrer Einlagen als Reserven zu halten, als es ihnen gesetzlich vorgeschrieben ist. Die einzige Auswirkung, die dies haben kann, ist die Verringerung der Menge des geschöpften Geldes (Bankkunden können die Geldschöpfung auch reduzieren, indem sie mehr von ihrem Geld als Bargeld halten). Heine/Herr kritisieren, dass die Banken in dem Geldschöpfungsmultiplikator-Ansatz „wie Marionetten der Zentralbank“ agieren (Heine, M./Herr, H.: Volkswirtschaftslehre – Paradigmenorientierte Einführung in die Mikro- und Makroökonomie, Berlin 2013, S. 314).
[16] Vor einiger Zeit haben allerdings die Fed, die  US-amerikanische Notenbank, und die Bank of England, die britische Zentralbank, für bestimmte Akteure des Schattenbankensystems (z.B. große Investmentfonds) die Möglichkeit eines direkten Zugriffs auf Zentralbankgeld geschaffen. Dieses Privileg war zuvor allein den Geschäftsbanken vorbehalten gewesen. Vgl. Wullweber, J.: Zentralbankkapitalismus, Berlin 2021, S. 27. Es handelt sich dabei aber um wenige Ausnahmen, die nichts an der allgemeinen Regel ändern.
[17] Die Bank of England, die britische Zentralbank, spricht von einem „split-circulation system“. Vgl. Jakab, Z./Kumhof, M.: Banks are not intermediaries of loanable funds – and why this matters, Bank of England Working Paper No. 529, Mai 2015, S. 10.
[18] Jakab, Z./Kumhof, M.: Banks are not intermediaries of loanable funds – facts, theory and evidence, Bank of England Staff Working Paper No. 761, 2019, S. 10. Vgl. auch Jakab/Kumhof 2015, a.a.O., S. 10; McLeay, M./Radia, A./Thomas, R.: Money creation in the modern economy, a.a.O., S. 16.
[19] Vgl. auch McLeay, M./Radia, A./Thomas, R., a.a.O., S. 15.
[20] Minsky, H. P.: Can „It“ Happen Again?, in: Carson, D. (ed.), Banking and Monetary Studies, Homewood, Illinois, 1963, S. 104.
[21] Domar, E.D.: Essays in the Theory of Economic Growth, New York 1957, S. 92.
[22] Minsky, H.P.: Can „It“ Happen Again? Essays on Instability and Finance, New York, 1982, S. xx.
[23] Vgl. Werner, R.A.: Can banks individually create money out of nothing? – The theories and the empirical evidence, in: International Review of Financial Analysis, Vol. 36, December 2014, S. 1-19.
[24] In einer Erweiterung des Experiments wurde die Kreditsumme auf ein anderes Konto des Forschers bei einer anderen Bank überwiesen. Diese Überweisung kam problemlos zustande, was zeigte, dass die Kreditsumme für reale Überweisungen verwendbar war.