»Der Arbeitsmarkt ist kein Kartoffelmarkt«
Wirtschaftswissenschaft ist für Sie Neuland, das Sie betreten möchten? Dann lassen Sie sich wie Lukas von Jakob auf eine Reise durch die zentralen Themen, Thesen und Irrtümer unserer Wirtschaftstheorien mitnehmen.
Im letzten Teil hat Jakob Lukas aufgezeigt, wie sich das gesamtwirtschaftliche Denken vom individuellen wirtschaftlichen Denken unterscheidet und dabei drei gesamtwirtschaftliche Paradoxien erklärt. Heute geht Jakob auf Keynes´ Kritik am neoklassischen Arbeitsmarkt und die Geldschöpfung aus postkeynesianischer Sicht ein.
»Wie wir gesehen hatten, soll die Höhe der Löhne in der Neoklassik vom Markt bestimmt werden. Der Arbeitsmarkt funktioniert im Prinzip genauso wie der Gütermarkt für Kartoffeln. Es gibt einen Gleichgewichtspreis für Arbeit, bei dem die vorhandenen Ressourcen an Arbeit optimal genutzt werden. Wenn die Politik einen höheren Lohn durchsetzt, führt das zu Arbeitslosigkeit.
Der Postkeynesianismus gibt an dieser Stelle eine ganz andere Antwort. Dazu folgendes Beispiel: Angenommen, es gäbe keinen Mindestlohn, nur schwache Gewerkschaften und Arbeitslosigkeit. In dieser Situation könnte ein einzelner Unternehmer sich sagen: Ich senke die Löhne meiner Angestellten um 10 %. Dann habe ich mehr finanziellen Spielraum. Die Hälfte davon behalte ich für mich, denn einen größeren Profit habe ich mir redlich verdient. Mit der anderen Hälfte senke ich die Preise meiner Produkte. Dann habe ich gegenüber der Konkurrenz einen Vorteil und kann mehr absetzen. Verallgemeinert würde das bedeuten:
LÖHNE SENKEN: Wenn alle Unternehmer die Löhne um 10 % senken, können sie mit der einen Hälfte davon ihren Profit steigern und mit der anderen Hälfte ihre Produkte billiger als andere anbieten und mehr absetzen.
Du merkst sofort: Die Idee des Unternehmers lässt sich nicht verallgemeinern. Warum?«
»Es ist wie bei der größeren Sicht im Kino: Einige können sich einen Vorteil verschaffen, wenn sie aufstehen, aber nicht alle. Einige Unternehmer können sich durch eine Kostensenkung einen Preisvorteil gegenüber anderen verschaffen, aber nicht alle. Wenn es einem Unternehmer gelingt, einen Preisvorteil gegenüber anderen zu erreichen, entsteht für diese anderen zugleich ein Preisnachteil. Außerdem geht der Unternehmer davon aus, dass die Nachfrage gleich bleibt. Aber wenn alle Unternehmer die Löhne um 10 % senken, haben die Angestellten monatlich 10 % weniger Geld in der Tasche. Die Preise sind jedoch weniger stark gesunken. Also werden die Antestellten weniger Produkte kaufen. Die Unternehmer werden mit dieser Aktion sogar weniger verkaufen als vorher.«
»Die Idee mit dem relativen Preisvorteil ist für alle Unternehmer zusammen unsinnig, richtig. Du vergisst aber, dass die Unternehmer einen höheren Profit haben. Sie könnten dieses Geld ausgeben und die fehlende Nachfrage ausgleichen.«
»Das habe ich tatsächlich vergessen. Wenn die Unternehmer mit ihrem zusätzlichen Profit mehr kaufen, gibt es vielleicht doch kein Problem für die Nachfrage. Die Frage ist, ob die Unternehmer das auch tun werden.«
»Das ist das Problem. Keynes hat auf folgenden Zusammenhang aufmerksam gemacht: Unternehmer sind zumeist reicher als Angestellte. Und reiche Menschen sparen mehr als ärmere. Wenn die Unternehmer den zusätzlichen Profit, den sie den Angestellten wegnehmen, auf die hohe Kante legen, schaden sie ihrer eigenen Nachfrage. Dann werden sie auch weniger Profit haben. Vor allem werden sie dann geneigt sein, Angestellte zu entlassen, um ihre Kosten zu senken.
Keynes gibt deshalb eine andere Antwort auf die Frage, wie hoch die Löhne sein müssen: Die Löhne der gesamten Volkswirtschaft müssen der Produktivität entsprechen. Die Angestellten müssen so viel bekommen, dass sie die Produkte der Unternehmen auch kaufen können. Steigt die Produktivität, sollten auch die Löhne steigen. Wenn die Löhne zu niedrig sind, um alle produzierten Güter zu kaufen, haben die Unternehmen zu wenig Nachfrage bzw. zu wenige Einnahmen. In dieser Situation neigen die Unternehmen eher dazu, Angestellte zu entlassen als einzustellen. Umgekehrt haben Unternehmen bei einer hohen Nachfrage gute Gründe zu investieren und neue Arbeitskräfte einzustellen.
Nicht der freie Arbeitsmarkt, sondern eine hohe Nachfrage ist die wichtigste Voraussetzung für Vollbeschäftigung. Der einzelne Unternehmer hat aber nicht die Gesamtwirtschaft im Sinn, sondern seinen Profit. Deshalb wird er versuchen, die Löhne niedrig zu halten. Aus diesem Grund ist es für Keynes illusorisch, dass im freien Markt Löhne entstehen, die zur Vollbeschäftigung führen.«
»Wie von dir erläutert, würden Neoklassiker darauf aber antworten, dass die Unternehmer desto mehr Arbeiter einstellen, je niedriger der Lohn ist.«
»Und dir ist daran schon ein Problem aufgefallen: Die Unternehmen haben kein Interesse, beliebig viele Arbeitnehmer einzustellen, wenn der Lohn nur niedrig genug ist. Schon gar nicht in einer Rezession. Sie tendieren im Gegenteil dazu, gerade so viele Arbeitnehmer einzustellen wie nötig sind. Niemand stellt fünf Arbeiter an ein Fließband, wenn vier völlig ausreichend sind. Für Löhne, die hoch genug sind, muss deshalb die Politik sorgen. Deshalb war Keynes für starke Gewerkschaften. Die These LÖHNE SENKEN ist aus postkeynesianischer Sicht also ebenfalls fasch.«
»So langsam begreife ich die Idee. Man muss sich immer die gesamte Volkswirtschaft anschauen und fragen: Woher kommen die Einnahmen? Wohin fließen die Ausgaben?«
»Richtig. Das sind wir von Haus aus nicht gewohnt und fällen deshalb leicht falsche Urteile. Wir werden uns gleich noch weitere Fälle ansehen. Zunächst sollten wir aber das Geldsystem noch etwas genauer kennen lernen. Was jetzt kommt, ist noch befremdlicher als das Bisherige. Keynes´ Neustart geht also noch weiter.«
»Dann mal los!«
Wie Geld entsteht
»Stelle dir noch einmal vor, Du möchtest ein Auto kaufen. Diesmal hast Du aber nicht genug Geld. Also gehst Du zur Sparkasse und nimmst einen Kredit über 10.000 € auf. Du unterschreibst einen Vertrag mit der Sparkasse. In dem Vertrag steht, dass die Sparkasse Dir 10.000 € auf Dein Konto überweisen wird. Im Gegenzug wird die Sparkasse von Deinem Konto jeden Monat einen bestimmten Betrag abbuchen, sagen wir 250 € zur Tilgung zuzüglich der Zinsen. Jetzt kommt die entscheidende Frage: Woher nimmt die Bank die 10.000 €, die sie auf Dein Konto bucht?«
»Die nimmt sie von den Ersparnissen, die andere Kunden bei der Bank angelegt haben.«
»Diese Meinung ist sehr verbreitet und sie findet sich auch in vielen neoklassischen Lehrbüchern. Wenn wir aber beispielsweise Fachleute von der Deutschen Bundesbank dazu befragen, ist diese Meinung nicht zutreffend. Wenn die Bank Dir die 10.000 € auf Dein Konto bucht, wird nirgendwo anderes in der Bank etwas abgezogen. Die 10.000 € werden sozusagen neu geschaffen. Wenn die Ersparnisse dafür verwendet werden müssten, könnte eine Bank ja bei der Vergabe von Krediten in eine Klemme geraten, weil nicht genug Ersparnisse zur Verfügung stehen. Hast du jemals jemanden darüber klagen gehört, dass er keinen Kredit bekommt, weil die Sparkasse im Augenblick leider zu wenige Ersparnisse zur Verfügung hat?«
»Nein, habe ich nicht. Das wäre in der Tat sehr merkwürdig.«
»Wenn der Kreditbetrag auf Deinem Konto eingetragen wird, entsteht neues Geld. Man nennt dieses Geld übrigens Buchgeld oder Giralgeld im Unterschied zu Scheinen oder Münzen. Die Erzeugung von neuem Giralgeld wird als Giralgeldschöpfung bezeichnet.«
»Aber darf denn die Bank die 10.000 € behalten, wenn ich sie zurückbezahle? Das wäre leicht verdientes Geld. Klingt irgendwie nach einem Betrugsmodell.«
»Nein, die 10.000 € verschwinden wieder. Das mag noch merkwürdiger klingen, aber es ist tatsächlich so. Das zurückbezahlte Geld darf von deinem Konto nirgendwohin übertragen werden. Die Zinsen hingegen darf die Bank behalten.«
»Beim Zurückzahlen von Krediten wird also Geld zerstört? Das ist wirklich seltsam!«
»Ja. Und es wird noch seltsamer. In unserem heutigen Geldsystem entsteht nämlich alles Geld durch Kredite. Durch Kredite der Zentralbank an die Geschäftsbanken und Kredite der Geschäftsbanken an die Kunden. Wenn alle Kredite zurückbezahlt würden, gäbe es kein Geld mehr. Das kann man bei der Deutschen Bundesbank tatsächlich so nachlesen.«
»Verblüffend. Aber was hat es mit den Krediten der Zentralbank an die Geschäftsbanken auf sich? Da kann ich mir nicht viel darunter vorstellen.«
»Das ist ebenfalls ein wichtiger, aber auch überraschender Punkt. Dieses System funktioniert völlig anders als man sich das gemeinhin vorstellt. Wenn Du eine Überweisung auf ein Konto bei einer anderen Bank machst, stellst Du dir das wahrscheinlich so vor: Das Geld auf Deinem Konto wird um einen bestimmten Betrag reduziert, der über ein Computersystem auf das Konto der anderen Bank übertragen wird. Und fertig. Richtig?«
»Ja.«
»Das ist aber zu kurz gedacht. Denn wenn Deine Bank einer anderen Bank viel Geld überweist, werden die Kunden dieser anderen Bank mehr Bargeld abheben. Deine Bank sollte der anderen Bank also auch Bargeld abgeben. Für manche Ökonomen ist das sogar der entscheidende Punkt an der Überweisung, weil sie nur Bargeld für echtes Geld halten.«
»Aber dann müssten ja jeden Tag haufenweise Geldtransporter in Deutschland herumfahren, von einer Bank zur anderen.«
»Das wäre in der Tat sehr umständlich. Deshalb macht man das sozusagen auch digital. Jede Geschäftsbank hat ein Konto bei der Zentralbank. Auf diesem Konto liegt Geld, das man Reserven nennt. Dieses Geld kann sich eine Geschäftsbank von der Zentralbank in Bargeld auszahlen lassen. Wenn also beispielsweise die Volksbank Hamburg am Ende des Geschäftstages feststellt, dass ihre Kunden der Sparkasse München mehr überwiesen haben als umgekehrt, braucht sie keinen Geldtransporter loszuschicken. Sie überweist den Differenzbetrag von ihrem Zentralbankkonto auf das Zentralbankkonto der Sparkasse München. Dann hat die Sparkasse München mehr Reserven, die sie sie sich von der Zentralbank in Bargeld auszahlen lassen kann.«
»Wie kommt eine Geschäftsbank überhaupt zu diesen Reserven?«
»Sie bekommt sie von der Zentralbank geliehen und muss dafür Zinsen bezahlen. Das ist der sogenannte Leitzins. Dafür muss sie der Zentralbank üblicherweise eine Sicherheit übergeben. Das könnte zum Beispiel ein Hauskredit sein. Die Geschäftsbank beweist damit der Zentralbank, dass sie in Zukunft wahrscheinlich Einnahmen erhalten wird. Durch den Hauskredit erhält die Geschäftsbank ja Zinsen.«
»Und woher nimmt die Zentralbank die Reserven?«
»Sie nimmt sie von nirgendwo. Sie werden einfach in den Computer eingegeben. Das Geld wird neu geschaffen, genauso wie Bargeld gedruckt wird.«
»Dann kann einem Staat das Geld eigentlich niemals ausgehen?«
»Technisch gesehen nein. Die Zentralbank, aber auch die Geschäftsbanken können ja beliebig große Zahlen in den Computer eingeben. Ob ein Staat in seiner eigenen Währung trotzdem Pleite gehen kann, kann dann nur an seinen Gesetzen liegen. Wir kommen darauf zurück.
Ich will Dich aber noch auf einen wichtigen Punkt hinweisen: Die Reserven, also das Geld auf den Zentralbankkonten nennt man Zentralbankgeld. Dieses Zentralbankgeld wird niemals auf die Konten der Kunden einer Geschäftsbank überwiesen. Es gibt also zwei Geldkreisläufe: Überweisungen zwischen den Konten der Zentralbank und Überweisungen zwischen den Dir geläufigen Konten der Bankkunden. Beide Geldkreisläufe sind also getrennt voneinander. Die Geschäftsbanken können die Reserven also nicht für die Vergabe von Krediten an Produktionsunternehmen oder Privathaushalte verwenden.
Das brauchen sie aber wie gesagt auch nicht, da sie bei der Kreditvergabe Giralgeld neu schaffen. Diese Trennung der Geldkreisläufe ist auch zentral für die Frage, auf welche Weise die Zentralbank die Wirtschaft beeinflussen kann.«
»Wirklich ganz anders als man sich es so vorstellt.«
»Zweifellos. Jetzt haben wir genug über das Geldsystem erfahren, um zu verstehen, warum Geld für Keynes einen Unterschied macht und warum Märkte aus seiner Sicht instabil sind.«
Im nächsten Artikel werden Keynes' Argumente gegen den neoklassischen Zinsmechanismus und die gesamtwirtschaftliche Rolle von Schulden erläutert.
Dieser Text ist ein Kapitel aus dem Buchprojekt »Thinking for Future«, das die politische Philosophie und angrenzende Sozialwissenschaften thematisiert.
Der Titel dieser Episode ist ein Bonmot von Heiner Flassbeck.