Funktionale statt solide Fiskalpolitik
Leider ist Abba P. Lerner in Vergessenheit geraten. Doch in Zeiten, in denen Fiskalpolitik notgedrungen wieder hoch im Kurs steht, muss wieder an das wirtschaftspolitisch Machbare erinnert werden.
Dass die Modern Monetary Theory überhaupt im deutschsprachigen Raum diskutiert wird, ist vor allem Makroskop zu verdanken. Dank gebührt den Makroskop-Machern dafür, weil die MMT durch ihre analytische Klarheit und Radikalität als ‘Mythenzerstörer‘ potentiell eine hohe Attraktivität auf volkswirtschaftlich interessierte Kreise ausstrahlen kann. Sie kann dazu beitragen, wieder eine akademische und gesellschaftliche Basis für eine progressive Wirtschaftspolitik zu schaffen. Diese Attraktivität ist von zentraler Bedeutung in Zeiten, in denen keynesianisches Denken in deutschen Parteien, an Universitäten und scheinbar auch bei den Gewerkschaften weiterhin auf dem Rückzug ist.
Die in der MMT-Debatte diskutierten Mythen der Vorzüge einer regelgebundenen ‚soliden‘ Fiskalpolitik und die damit verbundene Weltsicht, haben uns eine sogenannte Schuldenbremse, gar ein Verbot der Nettokreditaufnahme (auf Landesebene) in das Grundgesetz gebracht. In der Eurozone galt bereits zuvor der berühmte Maastricht-Vertrag mit seinen politisch-motivierten Defizit-Kriterien. Mit dem im Zuge der europäischen Wirtschaftskrise vereinbarten Fiskalpakt verpflichten sich die teilnehmenden Länder nun sogar zur Einführung nationaler Schuldenbremsen mit Verfassungsrang.
Dieses Denken in „soliden Finanzen“ wird in Europa längst mit einer stark unterausgelasteten Wirtschaft, Arbeitslosigkeit, sozialer Schieflage und drohenden Infrastrukturapokalypsen bezahlt. Und die Zukunft wird wohl noch düsterer, sofern die Schuldenregeln auch bei einem Wirtschaftsabschwung durch weitere massive Kürzungen einzuhalten versucht werden.
In der Vergangenheit erinnerten bereits Paul Steinhardt und Günther Grunert an ein Gegenkonzept zur regelgebundenen „soliden“ Fiskalpolitik: Die sogenannte Functional Finance. Diese von Abba P. Lerner stammende Theorie gilt als eine der Inspirationsquellen der heutigen MMT. Aufbauend auf John Maynard Keynes Prinzip der effektiven Nachfrage formulierte Lerner die Prinzipien einer an Vollbeschäftigung orientierten Fiskalpolitik. In Zeiten, in denen sogar sozialdemokratische Finanzminister nicht mehr von Defizit-Falken zu unterscheiden sind, verdient das Konzept eine Popularisierung, um an das eigentlich wirtschaftspolitisch Machbare zu erinnern.
Im Folgenden sollen die Prinzipien und die wichtigsten Implikationen der funktionalen Fiskalpolitik, im Wesentlichen angelehnt an einen Aufsatz von Mathew Forstater[1], vorgestellt werden.
Makroökonomische Ziele
Eine Regierung muss ihre fiskalischen Möglichkeiten (Steuerung der effektiven Nachfrage) nutzen, um die zwei wichtigsten wirtschaftspolitischen Ziele zu erreichen: Das Vermeiden wirtschaftlicher Abschwungphasen (d.h. keinerlei Abkehr von Vollbeschäftigung) und den Erhalt der Geldwertstabilität. Vollbeschäftigung steht im Zentrum von Lerners Theorie. Denn wenn Arbeitslosigkeit besteht, so Lerner, kommt es zu einer enormen gesamtwirtschaftlichen Ineffizienz und sozialen Problemen.
Der Preis der Arbeitslosigkeit
Arbeitslosigkeit sorgt nicht nur für einen Verlust an potentieller wirtschaftlicher Leistung, sondern auch für direkte soziale Kosten, wie z.B. häufigere Erkrankungen oder steigende Kriminalität. Bei Vollbeschäftigung kann ein einzelner Arbeiter sich leichter einen seinen Talenten und Neigungen entsprechenden Arbeitsplatz wählen und muss nicht an einem beliebigen Job festhalten, nur um zu überleben. Diese Wahlmöglichkeit verspricht eine höhere Produktivität, da die Wahrscheinlichkeit größer ist, dass Arbeiter sich entsprechend ihrer Fähigkeiten entfalten können. Lerner schätzt individuelle ökonomische Sicherheit durch eine Vollbeschäftigungsgarantie des Staates sogar höher ein, als steigende materielle Wohlfahrt – denn sie sorge für höheres Vertrauen in die wirtschaftlichen und politischen Prozesse.
Ohne eine Vollbeschäftigungspolitik der Regierung könne die Gesellschaft zudem nicht von arbeitssparendem Produktivitätsfortschritt profitieren. In einem einzelnen Prozess eingesparte Ressourcen (Arbeit) sind bei Arbeitslosigkeit nutzlos, da die freiwerdenden Arbeiter das Heer an Arbeitslosen weiter vergrößern. Diese Arbeiter werden aufgrund mangelnder Nachfrage keinen neuen Tätigkeiten nachgehen. Der gesellschaftliche Schaden wird so vergrößert. Nur eine entsprechende Nachfragesteuerung kann dafür sorgen, dass freiwerdende Ressourcen in anderen produktiven Prozessen verwendet werden und die Gesellschaft von technischem Fortschritt profitiert. Ein gewisser Output soll also nicht mit immer weniger Arbeitern produziert werden, sondern die gleiche Anzahl an Arbeitern möglichst für mehr Output sorgen.
In einer unterbeschäftigten Wirtschaft fehlt es an zusätzlichen finanziellen Mitteln (Nachfrage), um die freien Arbeitskräfte und gegebenenfalls brachliegendes Sachkapital wieder einer Verwendung zuzuführen. Güter und Ressourcen stellen nicht den Engpass dar, der die Wirtschaft am Wachsen hindert. In einer vollbeschäftigten Wirtschaft sind hingegen Ressourcen knapp. Um für einen bestimmten Prozess mehr Ressourcen einzusetzen, müsste man diese von anderen Prozessen abziehen.
Ausrichtung der Fiskalpolitik
Die staatliche Einnahmen- und Ausgabenpolitik darf nicht an starren budgetären Regeln ausgerichtet werden. Vielmehr muss die Fiskalpolitik die Erreichung makroökonomischer Ziele in ihrem Mittelpunkt stellen. Einzig an der Erfüllung einer Zielvorgabe sollte der Erfolg der Fiskalpolitik beurteilt werden: dass die Gesamtnachfrage entsprechend hoch ist, um den Vollbeschäftigungsoutput, bei herrschender Produktivität und herrschenden Preisen, absetzen zu können. Ist die Gesamtnachfrage zu gering, bleiben Unternehmer auf ihren Produkten sitzen und fahren ihre Produktion zurück. Arbeitslosigkeit ist die Folge.
Die Fiskalpolitik sollte in dieser Situation alles tun, um Vollbeschäftigung wieder herzustellen. Eine Erhöhung des staatlichen Defizits dient diesem Zweck. Ist die Gesamtnachfrage höher als das Güterangebot bei Vollauslastung, kann eine höhere Inflation folgen. Die Fiskalpolitik sollte in dieser Situation bremsend wirken und das staatliche Defizit verringern.
Bedeutet die Zielerreichung, dass dadurch eine permanent steigende staatliche Verschuldung verursacht wird, so ist das laut Lerner ein in Kauf zu nehmender Effekt dieser Politik. Werden dadurch „solide“ budgetäre Regeln gebrochen, so ist das schlecht für diese Regeln, aber unerheblich für das Handeln der Regierung. Um makroökonomische Ziele erreichen zu können, müssen moralische Vorstellungen über solide Fiskalpolitik ignoriert werden. Es wäre unverantwortlich, die Ziele zu opfern und die Folgekosten in Kauf zu nehmen.
Die Fähigkeit der Regierung eine funktionale Fiskalpolitik durchzuführen
Geld ist eine Institution, die durch den Staat geschaffen und deren allgemeine Akzeptanz durch den Staat gewährleistet wird. Die öffentliche Hand hat damit die Macht, Geld zu kreieren und es wieder zu vernichten. Damit gibt ein souveräner Staat selbst die finanziellen Mittel heraus, mit denen er Güter und Dienstleistungen aus dem privaten Sektor erwerben kann. Indem er über Schaffung und Vernichtung von Zahlungsmitteln bestimmt, hat er eine Vielzahl von Möglichkeiten – Staatlicher Konsum, staatliche Beschäftigung, Besteuerung, Kauf und Verkauf von Anleihen, etc. – für die Erreichung seiner Ziele zur Auswahl. Lerner stellt dabei insbesondere die Besteuerung in der entsprechenden Währung in den Mittelpunkt, welche die Privaten dazu bringt, dieses Zahlungsmittel selbst zu akzeptieren. Besteuerung dient nicht der Finanzierung des Staates
Die souveräne öffentliche Hand benötigt keine Einnahmen, um daraufhin Ausgaben tätigen zu können. Die staatliche Macht über das Zahlungsmittel verbietet diese Sichtweise. Besteuerung sollte daher ausdrücklich nicht zur Erzielung von Einnahmen dienen, sondern zur Erreichung von makroökonomischen Zielen. Die verschiedenen Möglichkeiten der Besteuerung haben zudem die Funktion, das Verhalten der Wirtschaftsteilnehmer in eine politische gewollte Richtung zu lenken.
Das Begeben von Anleihen dient nicht der Finanzierung des Staates
Analog zur Besteuerung ist auch das Begeben von Staatsanleihen keine notwendige Finanzierungsoperation für logisch nachgelagerte Staatsausgaben. Dabei werden vorher durch den Staat kreierte Zahlungsmittel wieder von den privaten Haushalten und Unternehmen eingezogen. Anleiheverkäufe sind den Staatsausgaben nachgelagert. Sie dienen dazu, die durch das Staatsdefizit verursachten Reserven im Bankensystem wieder einzusammeln und deren Zinssatz nicht auf null fallen zu lassen. Diese Operationen sollten nur durchgeführt werden, sofern die damit verbundenen makroökonomischen Folgen ausdrücklich gewünscht sind.
Implikationen der funktionalen Fiskalpolitik
Die Anwendung von Lerners Prinzip heißt nicht, dass diese Politik zu einer permanent steigenden staatlichen Verschuldung führt. Die Höhe der für die Erreichung der Ziele notwendigen Verschuldung ist abhängig von vielen Faktoren, hauptsächlich vom Ausgabenverhalten der anderen Sektoren einer Volkswirtschaft. Eine Vollbeschäftigungsgarantie des Staates würde zu einer stabilen wirtschaftlichen Entwicklung führen. Da die Regierung jederzeit entsprechend intervenieren muss, um das Ziel zu erreichen, würde das Risiko von rezessiven und depressiven Wirtschaftsphasen gemindert.
Eine solche Stabilität macht aber private Investitionen bedeutend attraktiver. Je höher diese Investitionen ausfallen, desto geringer fällt das staatliche Defizit aus – oder es wird gar überflüssig. Die Wirtschaftspolitik kann auch das Auftürmen großer privater Vermögen als Spiegelbild der staatlichen Verschuldung durch vermehrte Besteuerung hoher Einkommen und Vermögen begrenzen und so zu einer Senkung des notwendigen Defizits beitragen.
Die funktionale Fiskalpolitik als theoretisches Rahmenwerk
Die Gültigkeit dieses Rahmenwerkes hängt nicht an einer bestimmten Wirtschaftsform. Die gezogenen Schlussfolgerungen ergeben sich aus einer konsequent logischen und bilanziellen Betrachtung einer Volkswirtschaft, in der Geld eine zentrale Rolle einnimmt, ohne dabei Rücksicht auf institutionelle Gegebenheiten und moralische Konzepte zu nehmen. Die funktionalen Zusammenhänge der Finanzströme zwischen volkswirtschaftlichen Sektoren stehen im Mittelpunkt von Lerners Überlegungen.
Befreiend radikal
Abba Lerners Überlegungen wirken befreiend radikal, da sie nicht in Erzählungen oder ideologische Denkweisen eingebettet sind. Sie gründen auf der keynesianischen Theorie der effektiven Nachfrage und der tatsächlichen Verfasstheit eines modernen Geldsystems. Seine Thesen gelten als einer der wichtigsten theoretischen Anker der MMT. Auch die MMT versteht es, das Wirtschafts- und Geldsystem auf eine erfrischende Art und Weise zu analysieren und potentielle Gestaltungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Dass diese Einsichten für Verstörung sorgen werden, da sie einen kompletten Bruch mit den gewohnten Denkmustern verlangen, ist die eine Seite. Auf der anderen Seite bieten sie einen vergleichbar leicht verständlichen und in sich konsistenten Zugang zur Funktionsweise einer Volkswirtschaft. Ob man jede einzelne Position des Konzeptes teilt, ist nicht die Frage. Es zeigt aber auf, dass gesamtwirtschaftliches Denken geboten und eine andere wirtschaftspolitische Denkweise möglich ist.
Um den Bogen zur tagesaktuellen Wirtschafts- und Fiskalpolitik zu spannen: Lerner lehrt uns, dass die Einhaltung der Schuldenbremse und die angestrebte Übererfüllung dieser durch die SPD uns teuer zu stehen kommen wird. Wir tauschen potentiell mögliche gesellschaftliche Wohlfahrt gegen einen fälschlichen politischen Gewinn einzelner Politiker, der schlicht auf Mythen beruht.
Dieser Artikel wurde zuerst am 14. März 2018 auf Makroskop veröffentlicht.