„Eigentlich alles in Ordnung“
Marktgerechtigkeit heißt: die Gesellschaftsverhältnisse sollen gerecht sein, ohne dass dies irgendjemand beabsichtigt haben müsste. Der Sinn des Ganzen besteht darin, jede politische Gestaltung der Märkte abzuwehren.
Gerechtigkeit ist alles. Sie soll letztlich herrschen. Wer dies verneint, bringt nur eine andere Gerechtigkeitsvorstellung zur Geltung, auch wenn er nicht von „Gerechtigkeit“ spricht. Heute vermutlich, im Zeitalter des Neoliberalismus: höchstwahrscheinlich, die der Marktgerechtigkeit. Damit ist nicht gemeint, dass die Akteure dafür Sorge zu tragen haben, dass es auch auf Märkten gerecht zugeht, sondern, im genauen Gegenteil, dass es gerecht zugeht, wenn „der Markt“ in möglichst reiner Form herrscht.
Das Besondere an der Marktgerechtigkeit ist ja, dass die Gesellschaftsverhältnisse gerecht sein sollen, ohne dass dies irgendjemand beabsichtigt haben müsste. Moralität, Verantwortungsbewusstsein, Zivilcourage, der „gute Wille“, dies alles sei verzichtbar, wenn nur konsequent eigeninteressiert gehandelt werde. Für die Gerechtigkeit muss folglich eine andere, eine überpersönliche, mithin metaphysische Instanz (S. 125 ff.) gesorgt haben: Die unsichtbare Hand des Marktes. Was aber ist überhaupt gerecht?
Beschränken wir uns hier auf die Gerechtigkeit im, wie Kant es nannte, „äußeren Verhältnis der Menschen“ zueinander. Hierbei geht es vor allem um die Verteilung von greifbaren Dingen, nicht um das sozusagen immaterielle Verhältnis von uns Menschen als Menschen zueinander. Diesbezüglich gilt nach Kant und für den Humanismus: Wir haben uns als Wesen gleicher Würde anzuerkennen. Es gilt das Verdinglichungsverbot. Und zwar universell, also gegenüber allem „was Menschenantlitz trägt“ (Johann Gottlieb Fichte).
Die Marktgerechtigkeit scheitert hier von vornherein, weil im reinen Markt allein die dinglichen Eigenschaften anderer zählen, nämlich ihre relative Kaufkraft und ihre relative Leistungsfähigkeit.
In modernen Gesellschaften, deren Wirtschaft marktförmig organisiert ist, ist die Frage nach der Gerechtigkeit der Verteilung von Einkommen (und von Vermögen) von herausragender Bedeutung. Die Marktgerechtigkeit bzw. ihr politischer Arm: der Neoliberalismus wartet hierbei mit verschiedenen Ansätzen auf, um die bestehende Verteilung der Primäreinkommen, so diese marktkonform zugeflossen sind, zu rechtfertigen.
Die marktlibertäre Reduktion auf negative Gerechtigkeit
Die grobschlächtigste Variante besteht darin, Fragen der Verteilungsgerechtigkeit von vornherein für irrelevant zu erklären. Dabei wird Gerechtigkeit auf negative Gerechtigkeit (S. 400 ff.) reduziert. „Regeln der Gerechtigkeit sind negativ formuliert“, behauptet der Hohepriester des Neoliberalismus, Friedrich August von Hayek (1969, S. 114). Solange niemand auf andere physisch, letztlich gewaltsam, einwirkt, haben die Verhältnisse als gerecht zu gelten.
Überdies sei der Anspruch „sozialer Gerechtigkeit“ (gemeint ist Verteilungsgerechtigkeit) von vornherein verfehlt bzw. „illusionär“, da der wettbewerbliche Markt instanzlos (S. 80-84) ablaufe, es also niemanden gebe, der einem anderen sein Einkommen zugewiesen habe. Dann könne ja niemand ungerecht gehandelt haben, findet Hayek (1981).
Mit Blick auf die unmittelbaren Marktinteraktionsverhältnisse wollen Hayek und seine Anhänger vergessen machen, dass Lohndrückerei (als eine Form von Rentabilitätsextremismus) existiert und durchaus erfolgreich betrieben wird – etwa in Form der Umwandlung von ehedem unbefristeten Beschäftigungen in befristete Anstellungen, Leiharbeit, Werkverträge. Mit Blick auf die mittelbaren Marktinteraktionsverhältnisse, das heißt den Wettbewerb, wollen sie vergessen machen, dass es die Gier und die Findigkeit der einen sind, die andere, wenn auch über „unpersönliche Instanzen“ (Max Weber), um ihre ökonomische Existenz bringen oder sie, im vorauseilenden Gehorsam, zur Ökonomisierung ihrer Lebensführung zwingen, da sonst Prekarität droht.
Aus der Sicht negativer Gerechtigkeit ist dies alles irrelevant. In der neoliberal-populistischen Fassung reicht es aus, dass dies alles „freiwillig“ geschieht, was ja in einer Marktwirtschaft ohnehin der Fall sei. Solange es also keine Zwangsarbeit gebe, sei eigentlich alles in Ordnung. Der Sinn des Ganzen besteht natürlich darin, den Homo oeconomicus zu rechtfertigen und jede politische Gestaltung der Marktinteraktionsverhältnisse abzuwehren, denn das würde ja „die Freiheit“ beschränken. Gemeint ist damit allein die Freiheit, seine eigenen ökonomischen Vorteile lediglich gewaltfrei, ansonsten aber unumschränkt und durchaus gierig zu verfolgen.
Das Neidargument und die Negierung der Arbeitsteiligkeit
Ein weiterer Ansatzpunkt der Marktgerechtigkeit besteht darin, die Empörung über die wachsende Einkommenspolarisierung als Ausdruck einer verabscheuungswürdigen Gefühlsregung zu brandmarken, nämlich von Neid. Es sei der Neid der Erfolglosen auf den Erfolg der „Leistungsträger“. Diese hätten, wie jeder andere auch, ihr (Millionen-) Einkommen vollständig aus eigener Kraft, also allein und „eigenverantwortlich“ erzielt. Wem das nicht gefalle, der solle sich doch selbst mehr anstrengen. Positive Gerechtigkeit, Pflicht zum Tun statt bloß zum Unterlassen, kann in diesem Verständnis bloß die eher unverbindliche Form solidarischen Gebens an Hilfsbedürftige annehmen. Fairness im Umgang mit und zwischen Leistenden soll Anathema bleiben.
Das Neidargument negiert die Arbeitsteiligkeit des marktwirtschaftlichen Prozesses der Leistungserstellung. Zu diesem tragen, wie Walther Rathenau treffend festhielt, alle Beschäftigten in „unsichtbarer Verkettung“ bei. Weil Einkommen stets Anteile an einem Sozialprodukt bilden, sind an dessen Früchten alle, die zu seiner Entstehung beigetragen haben, fair zu beteiligen.
Wie genau, dies kann keine allgemeine Gerechtigkeitstheorie bestimmen. Dies ist vielmehr eine politische Frage. Klar ist nur, dass es sich hierbei um eine Fairnessfrage, nicht bloß um eine Almosenfrage handelt. Ebenso, dass der Leistungseinsatz und der Leistungsbeitrag des Einzelnen sich nicht am erzielten Leistungserfolg, am Markteinkommen also, ablesen lässt. Sonst wäre jedes marktkonform (also gewaltfrei) erzielte Einkommen, wie die einflussreiche neoklassische Grenzproduktivitätstheorie behauptet, als fair und leistungsgerecht zu klassieren. Dass marktkonform erzielte Einkommen nicht nur Wertschöpfung repräsentieren, sondern möglicherweise auch Abschöpfung, also ungerechtfertigte Bereicherung, wird damit überhaupt erst zu denken möglich.
„Chancen für alle“ statt „Wohlstand für alle“
Nun kann die Marktgerechtigkeit allerdings mit einer weiteren Variante aufwarten, nämlich mit dem Konzept von Chancengleichheit. Deren Motto lautet: „Gerechtigkeit der Chancen, nicht der Ergebnisse!“ Oder wie es die INSM formuliert: „Chancen für alle„ statt „Wohlstand für alle“. Wenn nur die „Chancen“ vor dem Eintritt ins „Marktspiel“ gleich verteilt sind, darf im „Marktspiel“ auf Fairnessüberlegungen verzichtet werden und jeder kann und muss nach eigenen Vorteilen streben und sich bietende „Chancen“ suchen und bitteschön nutzen. Jede noch so steile Einkommensverteilung ließe sich so rechtfertigen. Den Verlierer ließe sich zurufen: „Du hattest ja die Chance, aber Du hast sie nicht genutzt.“
Nur, wo ist die Grenze zu ziehen zwischen der auf die „Gleichheit der Chancen“ abstellenden Unterstützung anderer vor ihrem Eintritt ins „Marktspiel“ und der Suspendierung aller Fairnessüberlegungen im „Marktspiel“ selbst? Im Allgemeinen wird die Grenze mit dem Bildungssystem gezogen, jedenfalls soweit dieses Heranwachsende betrifft. Dieses wird damit allerdings auch immer weiter ökonomisiert, denn ab jetzt kommt es ja vor allem auf die Vermittlung der Fähigkeit an, „Chancen“, also Marktvorteile, zu suchen und zu nutzen, den Nachwuchs also zum Homo oeconomicus zu erziehen.
Abgesehen davon steht das Konzept in Widerspruch zur verbreiteten moralischen Intuition, dass es auch im Marktspiel selbst gerecht zugehen muss und dass die Marktergebnisse fair bzw. im buchstäblichen Sinne leistungsgerecht zu verteilen sind.
Utilitarismus: Opfer für die Steigerung des Weltnutzens
Zu den wirkungsmächtigen Gerechtigkeitskonzeptionen, die kein Pendant zu moralischen Alltagsintuitionen aufweisen, zählt der Utilitarismus. Mit ihm wachsen all diejenigen auf, die sich professionell mit „der Wirtschaft“ beschäftigen, sei es als politische oder unternehmerische Entscheidungsträger. Er bildet die Ethik der neoklassischen Standardtheorie.
Aus Sicht des Utilitarismus sind die Marktverhältnisse dann gerecht, wenn sie der Steigerung „der Effizienz“ dienen, was konkret bedeutet: Wenn sie dem BIP-Wachstum dienen. Es ist eine Ethik der Gesamtnutzensteigerung. Ob damit steigende oder sinkende Einkommensdisparitäten verbunden sind, hängt von den theoretischen Annahmen darüber ab, ob diese oder jene zum Wachstum beitragen.
Grundsätzlich gilt aus utilitaristischer Sicht, dass der vergleichsweise größere Einkommenszuwachs des einen den damit verbundenen vergleichsweise kleineren Einkommensverlust des anderen überkompensieren und damit rechtfertigen kann. Denn dadurch stiege ja der Weltnutzen. Dessen Steigerung haben sich die Wettbewerbsverlierer zu opfern. Auf breite Akzeptanz wird diese Gerechtigkeitskonzeption, so sie durchschaut wird, wohl kaum stoßen.
Paretianische Ökonomik: Ethik des Win-Win als Ethik des Rechts des Stärkeren
Anders sieht es mit einer weiteren, der paretianischen Auslegung des Effizienzbegriffs (S. 10 f.) aus (nach Vilfredo Pareto, 1848-1923). In dieser Variante sind die Marktinteraktionsverhältnisse dann als effizient und damit als gerecht zu klassieren, wenn mindestens ein Marktteilnehmer sich besserstellt, ohne einen anderen zu schädigen. Alle sollen sich besserstellen. Dies ist die Ethik des Win-Win.
Nun könnte man meinen, diese Konzeption müsste am wettbewerblichen Markt doch eigentlich scheitern. Denn dieser produziert ja nun einmal ständig Verlierer, was sich etwa in Form von Entlassungen oder Einkommensreduktionen bemerkbar macht.
Der Trick besteht im paretianischen Konzept darin, diese Verluste, für die es in der Regel ja nicht nur einen Verursacher gibt, erstens zu anonymisieren und sie zweitens als Anlass für Investitionen zu deuten. Investitionen sind Kosten, die in der Absicht auf sich genommen werden, sich morgen wieder auszuzahlen. Dafür, auf der Seite der Gewinner und nicht der Verlierer zu stehen, ist jeder selbst verantwortlich. Jeder solle eben „die Folgen“ seines Handelns „selbst tragen“ (FDP, Programm 2017, S. 123). Die „Folge“ des Nachlassens beim fortwährenden Investieren ins eigene Humankapital ist Einkommensarmut. Wer diese Folge produziert und mit welchem Recht, dies soll der Thematisierung entzogen werden.
Die paretianische Ökonomik bildet die ultimative Rechtfertigung der Herrschaft des Marktprinzips als dem eigentlichen Moralprinzip. Es ist der Versuch, den allgemeinen Homo oeconomicus zu rechtfertigen. Dass dieser Versuch ethisch gescheitert ist, da diese Konzeption auf eine Ethik des Rechts des Stärkeren (S. 20 ff.) hinausläuft, hat sich in den maßgeblichen akademischen Kreisen innerhalb der Wirtschaftswissenschaften allerdings noch kaum herumgesprochen. Dafür bedürfte es einer Revolution der Denkungsart innerhalb der Disziplin.