Editorial

Was schulden wir dem Wachstum?

| 28. April 2021
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Liebe Leserinnen und Leser,

in einer Sache sind wir wahrscheinlich einer Meinung: Der Klimawandel ist auch menschengemacht. Ist das eine Wahrheit, die in einer Zeit, in der es „die Wahrheit“ nicht mehr geben darf, noch gilt? Wir setzen dreist Ihr Einverständnis voraus.

Wenn das aber so ist – und ab jetzt wird es kompliziert – was folgt daraus? Wie werden wir dem Klimawandel Herr? Geht das überhaupt noch? Wie realistisch ist unter den gegenwärtigen systemischen – also wirtschaftlichen und politischen – Bedingungen das 1,5 Grad-Ziel?

Es ist bekannt, dass alle Industrienationen den ökologischen Umbau der Wirtschaft vorantreiben. Die Energiewende ist das wirtschaftspolitische Ziel der EU. Doch welcher Preis dafür zu zahlen ist, geschweige denn, welchen Preis wir politisch zu zahlen bereit sind, darin scheiden sich die Geister.

Fragen Sie mal die Eurokraten, die in der EU-Kommission sitzen. Man will einerseits die Corona-Krise abfedern sowie Digitalisierung und Klimaschutz vorantreiben, gleichzeitig werden längst vergessen geglaubte neoliberale Träume aus der Mottenkiste geholt. Zu den Prüfkriterien für die Mittel aus dem 750 Milliarden Euro schweren EU-Aufbaufonds zählt etwa, dass die nationalen Budgets auf „ineffiziente“ Aufgaben geprüft, Arbeitsmärkte reformiert und Investitionshemmnisse beseitigt werden.

Wie all das zusammenpasst, ist das Geheimnis der EU-Kommission. Der Kriterienkatalog ist genauso widersprüchlich wie die Politik von der Leyens, die mit ihrem „European Green Deal“ und dem Kampf gegen die Corona-Pandemie gleich zwei radikale Kehrtwenden hingelegt hat – und gleichwohl so tut, als passe die alte Politik im Geiste Maastrichts noch auf die neue Zeit.

Oder fragen Sie die Grünen hierzulande, die sich anschicken, mit Annalena Baerbock die erste Kanzlerkandidatin zu stellen (wir empfehlen dazu unser Spotlight). Der grüne Wahlprogrammentwurf sieht zusätzliche öffentliche Investitionen in Höhe von gerade einmal 50 Milliarden Euro pro Jahr vor. Das ist bei weitem nicht ausreichend, um einen großangelegten Strukturwandel anzuschieben. Von dem sonst kommunizierten Vorhaben, die Wirtschaft schnellstmöglich auf den 1,5 Grad Pfad bringen zu wollen, erst gar nicht zu reden. Weniger diplomatisch formuliert: Es ist ein Tropfen auf den heißen Stein. Doch wem es mit der Klimawende ernst ist, wird um Klimaschulden nicht herumkommen. Und die Schulden sind noch nicht einmal das Problem (wenn das die Grünen wüssten).

Aber wenigstens ist da ja noch Chuck Norris…, äh Mario Draghi. Glaubt man der Medienlandschaft, krempelt er gerade Italien gehörig um – ach was, nicht nur Italien, sondern die ganze EU. Sein "Reformplan", den er kürzlich in Brüssel als Bedingung für den Zugang zu den Geldern aus dem – sie wissen schon – EU-Aufbaufonds eingereicht hat, wird als „einmalige Gelegenheit zur Modernisierung des dysfunktionalen Staates" gepriesen.

Chuck, pardon, Mario kündigte nicht weniger als "Europas größtes Konjunkturprogramm" an, das die Eurozone zu China und den USA aufschließen lässt. Oder? Sieht man genauer hin, ist Draghis "massives" Konjunkturprogramm weit weniger beeindruckend. Das Defizit des Staates wird auf 11,8 Prozent des Bruttoinlandprodukts erhöht, was heißt, dass es sich bestenfalls um einen Anstieg des Defizits um einen Prozentpunkt handelt. Das ist weder ein Konjunkturimpuls noch kann man damit eine Volkswirtschaft Richtung Klimaneutralität pushen.

Ganz andere Frage: Geht das überhaupt? Fordert unser Wohlstand – das konsolidierte Wachstum – schlicht seinen energetischen Preis? Können wir Wachstum zwangsläufig nur mit mehr Energieverbrauch erkaufen? Ist es ein leeres Versprechen, dass ein solcher Tausch für das Klima nicht notwendig sei, dass für den Erhalt des Wohlstands notwendige Niveau des Energieverbrauchs durch bessere Energieeffizienz und Erneuerbare Energien gesichert und fossile Brennstoffe mit Erstarkung der Erneuerbaren ersetzt werden könnten?

Wir stellen diese Fragen noch einmal wertfrei in den Raum. Sollte es stimmen, dass die Weltwirtschaft einem Algenteppich bei Überdüngung gleicht und der Punkt nie erreicht wird, an dem die Menschheit ohne Wohlstandsverlust auf fossile Energien verzichten kann – Sie können sich ausmalen, was das für das globale politische Gleichgewicht bedeuten würde.