Editorial

Das Ende des wirtschaftlichen Liberalismus

| 03. November 2020
istock.com/NanoStockk

Liebe Leserinnen und Leser,

in unserer neuen Ausgabe debattieren wir über die Zukunft des Wirtschaftssystems. Treibt uns die Pandemie in Richtung eines autoritären Kapitalismus? Die Debatte um unser Geldsystem geht in eine weitere Runde und zur Machbarkeit der Energiewende gibt es ein Nachwort eines Experten.

Droht der autoritäre Kapitalismus?

In einer Zeit totaler Unsicherheit vereint nur eine einzige allgemeine Prognose alle Lager: Die Corona-Pandemie, die die Welt seit Frühjahr in Atem hält, wird unser Wirtschaftssystem verändern. Es ist ein Prozess, der längst in Gange ist und streng genommen durch die Corona-Krise nur beschleunigt wurde.

Vor allem Staaten mit libertären Wirtschaftssystemen sind besonders hart getroffen. Doch wie steht es um zwei andere Wirtschaftssysteme angesichts der Pandemie – um das sozialliberale System, wie es sich in den sozialen Marktwirtschaften Europas schwach andeute, und um den autoritären Kapitalismus asiatischer Prägung, der staatskapitalistische Züge aufweist, fragen Niklas Dummer und Christian Neuhäuser. Der politische Ausnahmezustand und die daraus resultierende ökonomische Krise würden besonders auf marktliberale Wirtschaftssysteme einen Veränderungsdruck ausüben, glauben sie. Es bestehe die Gefahr, dass sich vielerorts ein zunehmend autoritärer Kapitalismus durchsetzt, bei dem die Marktwirtschaft und ihre einzelnen Prozesse in einem hohen Maße durch staatliche Akteure gelenkt werden.

Tatsächlich scheinen wir mit der Corona-Krise vorerst Zeuge eines kurzen Moments staatlicher Emanzipation von der Kontrolle durch die Märkte zu werden. Die massiven und vorher nicht für möglich gehaltenen Summen, die im Zuge der Corona-Hilfspakete in die nationalen Wirtschaftsräume gepumpt werden, gingen mit einer Aussetzung der Schuldenregeln einher. Die EZB stellt sich temporär in den Dienst der fiskalischen Intervention der Staaten und Produktionsstandorte – etwa in der Pharmabranche – werden renationalisiert.

Warum aber genau diese zurückgekehrte Macht des Staates eine Blaupause des autoritären Kapitalismus sein soll, erschließt sich Sebastian Müller nicht. Mechanismen wie eine direkte Unterstützung von Wirtschaftszweigen, Kreditlenkung, direkte Subventionen und Steuererleichterungen – also Signale an die Wirtschaft, sich in eine bestimmte Richtung zu entwickeln – hätten die Staaten des Westens schon längst einsetzen sollen. Die Frage sei, was man von den ostasiatischen Tigerstaaten wirtschaftspolitisch vielleicht sogar lernen könnte.

Mehr Energiewende

Sie erinnern sich vielleicht. Der Energiesachverständige Professor Harald Schwarz hat dem Ausschuss für Wirtschaft und Energie des Deutschen Bundestages eine umstrittene Stellungnahme vorgelegt (wir berichteten). Seiner Aussage, dass der bis 2038 geplante Kohleausstieg notgedrungen im Sinne »einer nachhaltigen und versorgungssicheren Energiewende im Stromsektor« verschoben werden müsse, widerspricht jetzt Professor Christof Wittwer vom Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme (ISE). Im Gespräch mit MAKROSKOP sagt er, dass die weltweite Stromversorgung aus regenerativen Quellen gedeckt werden kann. Um die Klimaziele zu rechtzeitig zu erlangen, sei es zudem unabdingbar, den Ausbau der erneuerbaren Energien drastisch zu beschleunigen, so Wittwer weiter.

Semantische Probleme

Unsere Debatte um das Geldsystem geht in eine neue Runde. Auf das MAKROSKOP-Spotlight zur Modern Money Theory und Vollgeld antwortet der Vorsitzende der Monetative e.v. Klaus Karwat, der grundlegende Fehler im MMT-Denken ist, dass Geld ein Schuldschein sein soll. Dieses Denken resultiert noch aus einer Zeit, in der Geld mit Gold gedeckt war: Man konnte mit seinem Geldschein zur Zentralbank gehen und dafür Gold verlangen. Unser heutiges Geld ist aber mit nichts mehr gedeckt – also auch kein Schuldschein, schreibt Karwat.

Damit nimmt er direkt Bezug auf Maurice Höfgen, Autor der Buchs »Mythos Geldknappheit«, der diese These im Interview mit Paul Steinhardt erneut bekräftigt. Für Höfgen sind es Staatsanleihen, die ein Relikt aus Zeiten des Goldstandards sind. Heute dienen sie dazu, den Interbankenmarktzins zu steuern. Geld aber bleibt für ihn im Wesentlichen ein Schuldschein. »Ohne Geldschulden gibt es keine Geldguthaben, gibt es kein Geld.« Wenn wir bezahlen, dann machen wir das mit einem Schuldschein. Wir begleichen Schulden also mit Schulden, so Höfgen.

Steinhardt selbst treiben beide Positionierungen um. Leider verfügten wir immer noch nicht über einen Geldbegriff, der uns in die Lage versetzte, über Geldphänomene eine sachgerechte Diskussion zu führen, so sein Befund. Bestes Beispiel sei der an sich lobenswerte Versuch von Klaus Karwat, in einen Dialog mit der MMT über das Thema »Staatsschulden« einzutreten. Wenn er die MMT dazu auffordere, mit den Vollgeldreformern für eine schuldenfreie Emission von Geld einzutreten, werde deutlich, dass er deren zentrale Botschaft nicht richtig verstanden habe. MMT-Vertreter behaupten nämlich, dass im Rahmen einer souveränen Währung dieser Zustand bereits Realität ist.

Freilich aber tue sich auch die MMT keinen Gefallen, wenn sie in diesem Zusammenhang wie Maurice Höfgen im Interview apodiktisch postulieren: »Ohne Geldschulden gibt es keine Geldguthaben, gibt es kein Geld.« Tatsächlich, so Steinhardt, handelt es sich bei der Auseinandersetzung um diese Aussage nur um ein semantisches Problem. Eines aber, das sich aus dem Weg zu räumen lohne, wie die vielen an der Sache vorbeigehenden Diskussionen deutlich machen.

Der vollkommene Markt

Auch unser neuer Wirtschaftsguide für Einsteiger geht in die nächste Runde. In Teil 1 hat Jakob hat Lukas gezeigt, was mit dem Gleichgewicht des Marktes gemeint ist, von dem Neoklassiker immer reden. Welche Voraussetzungen der vollkommene Markt aber genau besitzen muss, damit sich ein Gleichgewicht einstellt, erklärt Jakob heute.