Banken- und Finanzkrisen und die Ökonomik
Warum kommt es immer wieder zu Banken- und Finanzkrisen? Die Gründe liegen in der Funktionsweise von Banken und der Geldentstehung in modernen Volkswirtschaften. Doch die traditionelle ökonomische Wissenschaft führt hier in die Irre.
Um das Thema Banken- und Finanzkrisen war es hierzulande in den letzten Jahren relativ still geworden. Die globale Finanzkrise von 2008 lag lange zurück und andere Probleme (COVID-19, Krieg in der Ukraine, Inflation etc.) traten in den Vordergrund. Mit der Pleite der Silicon Valley Bank und der Zwangsfusion der Credit Suisse mit der UBS hat sich dies schlagartig geändert – nun grassieren auf einmal wieder Ängste vor einer neuen Bankenkrise. Zuletzt geriet in den USA im Gefolge der Turbulenzen um die Silicon Valley Bank die First Republic Bank in Schieflage, wurde der US-Einlagensicherung FDIC unterstellt und dann zu großen Teilen direkt an JP Morgan Chase weiterverkauft. Der Zusammenbruch der First Republic stellt die zweitgrößte Bankenpleite in der Geschichte der USA dar.
Der Kollaps der Silicon Valley Bank und die Notfusion von Credit Suisse und UBS sind auf MAKROSKOP bereits in mehreren Artikeln thematisiert worden (zum Beispiel hier oder hier). In diesem Beitrag soll es weniger um die jüngsten Bankenturbulenzen gehen als vielmehr um das Problem der Krisenanfälligkeit des Bankensystems allgemein.
Geld- und Bankwesen in der herrschenden Lehre
Eine Grundvoraussetzung für die Beantwortung der Frage, warum es immer wieder zu Banken- und Finanzkrisen kommt, ist ein Verständnis der Funktionsweise von Banken und der Geldentstehung in modernen Volkswirtschaften. Dass es daran hapert, hat kein Geringerer als Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman demonstriert, der noch Jahre nach der globalen Finanzkrise von 2008 behauptete, dass sich diese Krise ohne Weiteres im Rahmen der herrschenden Lehre erklären lasse – keineswegs hätten „der Volkswirtschaftslehre die Werkzeuge zum Verständnis solcher Dinge gefehlt“. Nach Krugman bestand der Fehler der Mainstream-Ökonomen lediglich darin, der wachsenden Bedeutung der Schattenbanken zu wenig Beachtung geschenkt zu haben – „ein Fall von Kurzsichtigkeit“, mehr nicht.[1] Zu einer solchen (Fehl-) Einschätzung konnte er – wie Randall Wray überzeugend nachweist – nur gelangen, weil er das Bankwesen nicht versteht.[2]
Tatsächlich hat die traditionelle ökonomische Wissenschaft allgemein zum Geld- und Bankwesen wenig zu bieten. Sie ging lange davon aus, dass Geld keinen wirklichen Einfluss auf die Wirtschaft hat, und daher wurden monetäre Phänomene – Geld und Banken – in den neoklassischen Modellen nicht berücksichtigt. In diesen Modellen gab es keine Blasen, keine Spekulation, keine Crashs und keine Krisen. Und jeder zahlte immer pünktlich alle fälligen Schulden.
Auch heute noch lassen viele konventionelle ökonomische Modelle Geld ganz aus der Analyse heraus und modellieren einfache Volkswirtschaften, die ohne Geld funktionieren. Wenn Geld dann später hinzugefügt wird, spielt es keine wichtige Rolle.
Natürlich bedeutet dies nicht, dass die herrschende Lehre die Existenz von Banken leugnet, aber „reine Umverteilungen dürften keine nennenswerten makroökomischen Effekte haben“, wie Ben Bernanke, früherer Chef der US-Notenbank, im Jahr 2000 feststellte.[3] Mit "reinen Umverteilungen" meinte Bernanke, dass bei der Kreditvergabe und der Rückzahlung von Schulden Geld von einer Gruppe zu einer anderen übertragen werde – im Falle der Kreditvergabe vom Sparer zum Kreditnehmer und im Falle der Rückzahlung vom Kreditnehmer zum Sparer –, ohne dass sich dies auf die Gesamtmenge des verwendeten Geldes auswirke. Ein Kredit führt mithin lediglich dazu, dass die Kaufkraft der Sparer sinkt und die der Kreditnehmer entsprechend steigt, während seine Rückzahlung das Gegenteil bewirkt.[4] Jedoch gilt diese Vorstellung nur in einer Welt, in der die Banken kein Geld schaffen, was die Welt der neoklassischen Lehrbücher ist – nicht aber die reale Welt.
Banken als Geldproduzenten
In den meisten VWL-Lehrbüchern werden Banken traditionell als reine Finanzintermediäre dargestellt, die die Ersparnisse privater Haushalte oder Unternehmen einsammeln und als Kredite an andere Unternehmen oder Haushalte sowie den Staat weiterreichen.
Wir haben seit vielen Jahren auf Makroskop (zum Beispiel hier, hier oder hier) – aber auch an anderer Stelle[5] – immer wieder diese Banken-Intermediations-Theorie kritisiert und gezeigt, dass Banken eben nicht Finanzintermediäre sind, sondern Einlagen per Buchungssatz erzeugen.[6] Das heißt, die einzelnen Banken schaffen Geld, wenn sie Kredite vergeben.[7] Nach der großen Finanzkrise des Jahres 2008 hatte es zunächst Hoffnungen gegeben, dass das Versagen der Mainstream-Ökonomen, die schwerste ökonomische Krise der Nachkriegszeit vorherzusehen, zu einem grundlegenden Wandel im ökonomischen Denken – speziell hinsichtlich der Geldtheorie – führen würde. Die Ökonomen, die vor der globalen Finanzkrise gewarnt hatten, stammten fast ausschließlich aus Nicht-Mainstream-Denkschulen, die unter dem Begriff "heterodoxe Ökonomie“ zusammengefasst werden. Niemand sagte die Krise auf Basis des neoklassischen Modells voraus.
Zusätzliche Hoffnung keimte auf, als die Bank of England, die britische Zentralbank, im Jahr 2014 in einem bahnbrechenden Papier feststellte:
„Die Geldschöpfung in der realen Welt unterscheidet sich von einigen populären falschen Vorstellungen: Banken agieren nicht einfach als Intermediäre, die Einlagen von Sparern ausleihen, und sie "vervielfachen" auch nicht Zentralbankgeld, um neue Kredite und Einlagen zu schaffen.“[8]
Mehrere andere Zentralbanken veröffentlichten ähnliche Papiere, nicht zuletzt die Deutsche Bundesbank drei Jahre später. Die Bundesbank sprach von einem „weitverbreiteten Irrtum, wonach die Bank im Augenblick der Kreditvergabe nur als Intermediär auftritt, also Kredite lediglich mit Mitteln vergeben kann, die sie zuvor als Einlage von anderen Kunden erhalten hat.“[9] Und: „Tatsächlich wird bei der Kreditvergabe durch eine Bank stets zusätzliches Buchgeld geschaffen. Die weitverbreitete Vorstellung, dass eine Bank ‚auch altes, schon früher geschöpftes Buchgeld, z.B. Spareinlagen, weiterreichen‘ (könne), […] trifft nicht zu.“[10]
Parallel dazu wurde erstmalig im August 2013 von Richard Werner, Professor für Bankwesen in Southampton, geprüft und dokumentiert, was in einer Bank und ihren Büchern vor sich geht, wenn ein Kredit vergeben wird.[11] Die empirische Prüfung erfolgte in Form des Abschlusses eines Kreditvertrages bei einer Bank in einer Stadt Niederbayerns. Der Forscher nahm dort persönlich einen Kredit über 200 000 Euro auf und die kreditvergebende Bank legte ihre relevante interne Buchhaltung beziehungsweise die übliche interne Vorgehensweise bei ihrem Kreditvergabeverfahren offen.[12]
Die empirische Untersuchung zeigte nun, dass die Bank im Prozess der Bereitstellung von Geld auf dem Bankkonto des Kreditnehmers dieses Geld nicht von anderen internen oder externen Konten transferierte. Sie nahm mithin keine Überweisungen oder Kontodispositionen vor, um die Kreditsumme auf dem Konto des Kreditnehmers zu „finanzieren“. Vielmehr erzeugte die Bank die Geldmittel neu, indem sie dem Kreditnehmer den gewährten Geldbetrag auf dessen Girokonto als Einlage gutschrieb, obwohl niemand vorab eine solche Einlage getätigt hatte. Auch die Empirie belegt also, dass Banken keine bloßen Finanzintermediäre sind, sondern bei der Kreditvergabe neues Geld „aus dem Nichts“ schaffen.
Nobelpreise und unveränderte Lehrbücher
Nun würde man vermuten, dass eine solch fundamentale Kritik beim Mainstream zu einem Überdenken bisheriger Positionen geführt hat. Doch weit gefehlt: Im vergangenen Jahr 2022 erhielten die drei Ökonomen Douglas W. Diamond, Philip H. Dybvig und Ben S. Bernanke den Wirtschaftsnobelpreis für Arbeiten, denen zufolge – wie es im „Scientific Background“- Papier der „Royal Swedish Academy of Sciences“ zum Preis heißt – Banken als "Finanzintermediäre" die "Geldmittel von Sparern an Investoren weiterleiten, wobei sie Gelder von einigen Kunden erhalten und die Gelder zur Finanzierung anderer verwenden."[13] In dem Dokument der „Royal Swedish Academy“ wird auf die wachsende Kritik an diesen Vorstellungen nicht eingegangen, ja, die oben erwähnten Studien der Zentralbanken und die empirische Untersuchung Werners finden noch nicht einmal Erwähnung.
Aber wie sieht es bei den führenden VWL-Lehrbüchern aus? Bislang lässt sich auch hier kein grundlegendes Umdenken feststellen. Aber werden die Lehrbuchautoren vielleicht in naher Zukunft ihre Darstellung ändern oder zumindest um die abweichende Position ergänzen? Ein erst kürzlich erschienener Blog-Eintrag von N. Gregory Mankiw[14] gibt wenig Anlass zu Optimismus. Dazu muss man wissen, dass Mankiw zusammen mit Mark P. Taylor das Lehrbuch „Grundzüge der Volkswirtschaftslehre“ (Titel der Originalausgabe: „Economics“) verfasst hat, das „mit Abstand wichtigste Lehrbuch im Bereich der Volkswirtschaftslehre allgemein“, wie Elsa Egerer und Christian Rebhan in einer Untersuchung der Frage, welche Lehrbücher im VWL-Studium am häufigsten verwendet werden, feststellen. Und dies nicht nur in Deutschland: „Im nationalen sowie internationalen Kontext wird das Lehrbuch im Bereich der allgemeinen VWL überall als der Marktführer angeführt.“[15]
In seinem Blog-Beitrag berichtet Mankiw von einem Gespräch mit einem anderen Mainstream-Ökonomen, der "die Studenten nicht über die Geldschöpfung im Rahmen eines Bankensystems mit partieller Reservehaltung (fractional reserve banking) unterrichtet" – und zwar nicht deshalb, weil es sich um einen Trugschluss handelt, sondern weil der Kollege dies für "eine unnötige technische Einzelheit" halte. Mankiw dagegen glaubt, dass die Studenten über die Geldschöpfung der Banken innerhalb eines partiellen Reservesystems Bescheid wissen müssten, um zu verstehen, wie "ein niedrigerer Zinssatz auf Reserven die Kreditvergabe der Banken erhöht und die Geldmenge ausweitet, indem er den Geldschöpfungsmultiplikator erhöht.“ Man könne aber „den Geldschöpfungsmultiplikator […] nicht verstehen, ohne das Bankensystem mit partieller Reservehaltung zu verstehen.“ Insgesamt – so Mankiw abschließend – „bleibt die traditionelle Pädagogik über die Beeinflussung der Geldmenge durch die Banken wichtig, wenn die Studenten die Ökonomie der Inflation verstehen sollen.“
Die Theorie des Geldmultiplikators
Das mag kompliziert klingen, ist es aber nicht. Wie bereits erwähnt, werden in den meisten Lehrbüchern Banken als bloße Finanzintermediäre dargestellt. Als solche nehmen sie Einlagen entgegen, halten einen kleinen Teil dieser Einlagen als Liquiditätsreserve (damit zum Beispiel Bargeld verfügbar ist, wenn einige Anleger Abhebungen vornehmen wollen) und leihen den Rest aus. Wenn jede Bank bei der Kreditvergabe so verfährt, wächst die gesamte Kreditvergabe durch den sogenannten „Geldschöpfungsmultiplikator“ (oder einfach „Geldmultiplikator“).
Ein einfaches Beispiel soll dies verdeutlichen.[16] Nehmen wir an, dass alle Banken – durch die sie regulierende Gesetzgebung – verpflichtet sind, ein Verhältnis von Liquiditätsreserven zu Einlagen von zehn Prozent aufrechtzuerhalten (wir sehen hier vereinfachend von den Liquiditätsreserven ab, die die Banken aus Sicherheitsgründen über dieses Minimum hinaus halten mögen). Nun zahle ein Kunde 100 Euro bei Bank A ein.
Bank A behält 10 Euro als Liquiditätsreserve, um der vorgeschriebenen Relation von Liquiditätsreserven zu Einlagen von zehn Prozent zu entsprechen. Die verbleibenden 90 Euro werden an einen Kunden verliehen, dessen Einlagen um 90 Euro steigen. Der Kunde gibt diese Einlagen aus und der Empfänger des Geldes (der Verkäufer) zahlt 90 Euro bei Bank B ein. Bank B leiht dann 0,9 x 90 Euro = 81 Euro (wobei sie – wie erforderlich – 10 Prozent, also 9 Euro, als Liquiditätsreserve behält) an einen Kunden aus, um dessen Ausgaben zu finanzieren, und so weiter.
Auf jeder Stufe nimmt der verliehene und dann ausgegebene Betrag ab. Wenn das Bankensystem tatsächlich auf diese Weise funktionierte, würden zusätzliche Kredite im Wert von 900 Euro geschaffen. Zusammen mit der ursprünglichen neuen Einlage bedeutet dies, dass die Einlagen um insgesamt 1.000 Euro gestiegen und durch 100 Euro an Liquiditätsreserven "gedeckt" sind, wodurch die geforderte Zehn-Prozent-Quote erfüllt wird.
Dieses Beispiel beschreibt, was in den Mainstream-Lehrbüchern ein "Bankensystem mit partieller Reservehaltung" genannt wird. Es findet „Geldschöpfung innerhalb eines Systems partieller Reservehaltung“ statt, wie es Mankiw/Taylor ausdrücken.[17] Bezogen auf die anfängliche Einlage von 100 Euro beträgt der Geldschöpfungsmultiplikator 10, was dem Kehrwert des erforderlichen Verhältnisses von Liquiditätsreserven zu Einlagen von 0,1 entspricht.
Wichtig ist, dass in dem angeführten Beispiel keine einzelne Bank Geld schafft, sondern das System als Ganzes die anfängliche Einlage von 100 Euro in 1.000 Euro vervielfacht ("multipliziert"). In jedem Schritt verleiht jede Bank einfach 90 Prozent der Einlage, die sie erhalten hat, und behält zehn Prozent als Liquiditätsreserve. Je größer der Anteil einer Einlage ist, der als Liquiditätsreserve einbehalten werden muss, desto geringer ist der Multiplikatoreffekt.
Kritik an der Theorie des Geldmultiplikators
Obwohl die Darstellungsform des Geldschöpfungsmultiplikators variiert – oft beginnt die Beschreibung auch damit, dass die Zentralbank Reserven (= „unbares“ Zentralbankgeld, also Einlagen bei der Zentralbank) an die Geschäftsbanken verleiht[18] und diese dann die Reserven an Produktionsunternehmen und private Haushalte weiterverleihen –, bleibt der Mechanismus immer der gleiche: Die Banken in ihrer Gesamtheit vervielfachen aufgrund ihrer Beziehungen untereinander, also in gemeinsamer Interaktion, die Geldmenge.
Allerdings überzeugt dieses Modell der Geldschöpfung der Banken schon auf der elementarsten Ebene nicht: So bemängelt Keen an Mankiws Variante mit Recht, dass sie nur funktioniert, wenn alle Kredite in bar vergeben werden[19], was mit der Realität kaum vereinbar ist. Auch um die Alternativversion steht es nicht besser: Denn die Banken können Reserven gar nicht an Produktionsunternehmen oder private Haushalte weiterverleihen, da Nichtbank-Unternehmen und Privathaushalte über keine Konten bei der Zentralbank verfügen. Reserven werden nur auf Konten bei der Zentralbank gehalten und daher allein zwischen Banken verliehen (sie verlassen nie den Bereich der Zentralbankkonten). Einlagen der Geschäftsbanken bei der Zentralbank und Einlagen von Kunden bei den Geschäftsbanken zirkulieren in getrennten Systemen.[20]
Die Bank of England kritisiert die herrschende Sicht zur Kreditvergabe der Banken – insbesondere das Geldschöpfungsmultiplikator-Modell – zusammengefasst so:
„[…] diese ignoriert, dass Zentralbankgeld entweder gar nicht an Nichtbanken verliehen werden kann (Reserven) oder nicht an Nichtbanken verlieren wird (Bargeld).“[21]
Das Modell des Geldschöpfungsmultiplikators unterstellt darüber hinaus fälschlicherweise, dass einer Geschäftsbank zunächst zusätzliche Reserven zugeflossen sein müssen, bevor sie zusätzliche Kredite gewähren kann. In der Realität dagegen vergeben Banken Kredite an alle Kunden, die sie finden können und als kreditwürdig einstufen – und zwar ganz unabhängig von dem speziellen Reservebestand, über den sie zum Zeitpunkt der Kreditgewährung gerade verfügen.
Kein Kreditsachbearbeiter würde je auf die Idee kommen, zuerst zu prüfen, ob seine Bank über genügend Reserven verfügt, die es ihm erlauben, einen bestimmten Kredit zu bewilligen. Eine separate Abteilung in jeder Bank kümmert sich darum, dass ausreichend Reserven vorhanden sind, um insbesondere den sogenannten Zahlungsausgleich zu ermöglichen. Denn hat eine Bank an eine andere mehr Geld überwiesen als umgekehrt, dann akzeptiert die Bank als Zahlungsmittel nur Zentralbankgeld (d.h. die Differenz im Zahlungsverkehr wird in Reserven übertragen; dies geschieht über die Konten der beiden Banken bei der Zentralbank).
Die Banken brauchen jedoch – unter normalen Umständen und solange sie solvent sind – nie zu befürchten, an benötigte Reserven nicht heranzukommen. Sie wissen, dass sie sich, wenn sie knapp an Reserven sind, diese auf dem Interbankenmarkt von anderen Banken oder – falls dies nicht möglich sein sollte – bei der Zentralbank leihen können. Die Zentralbank muss die Banken und mithin die Volkswirtschaft insgesamt immer mit den erforderlichen Reserven versorgen und selbst eine massiv steigende Nachfrage der Banken nach diesen stets bedienen. Täte sie dies nicht, würde sie mit dieser Verweigerung nicht nur die Banken in Zahlungsprobleme stürzen, sondern letztendlich das gesamte Finanzsystem fundamental destabilisieren, was mit ihrem Mandat der Aufrechterhaltung des Zahlungsverkehrs unvereinbar wäre.
Ist die Geldmenge exogen?
Viele Mainstream-Ökonomen glauben immer noch, dass die Zentralbank die Kontrolle über die so genannte „Geldbasis“ – die sich aus den Reserven und dem umlaufenden Bargeld zusammensetzt – hat und dass der Geldschöpfungsmultiplikator Veränderungen der Basis in Veränderungen der Geldmenge umsetzt. Indem die Zentralbank die Größe der Geldbasis festlege, kontrolliere sie also die Geldmenge.
Somit stützt sich die Analyse auf die Annahme, dass die Geldmenge "exogen" ist, d. h. von der Zentralbank gesteuert wird. Dies ist eine wichtige Behauptung, da sie die Argumente untermauert, dass Zentralbanken Inflation verursachen können, indem sie die Geldmenge zu schnell wachsen lassen. Daraus folgt dann die Politikempfehlung der „Quantitätstheorie des Geldes“, dass die Zentralbank die Inflation bekämpfen soll, indem sie das Geldmengenwachstum verlangsamt.
Wie die obigen Ausführungen bereits zeigen, beruht diese Empfehlung auf einer unzutreffenden Prämisse. Statt die Geldmenge zu steuern, reagiert die Geldbasis auf die Ausweitung der Kreditvergabe durch die Banken. Dies bedeutet, dass die Geldmenge endogen bestimmt wird und die Zentralbank nicht in der Lage ist, irgendwelche Mengenziele einzuhalten.
Passive Geschäftsbanken?
Interessanterweise spielen die Geschäftsbanken im Geldmultiplikatormodell eine ziemlich passive Rolle. Der Zentralbank kommt die dominierende Rolle in der Bestimmung der Geldmenge zu. Eine aktive Rolle wird den einzelnen Banken allein in ihrer Fähigkeit zugewiesen, einen höheren Anteil der Einlagen als Liquiditätsreserve zu halten, als es gesetzlich vorgeschrieben ist, und die einzige Auswirkung, die dies haben kann, ist die Verringerung der Geldmenge, die geschöpft wird (die Bankkunden können die geschaffene Geldmenge ebenfalls verringern, indem sie mehr von ihrem Geld als Bargeld halten). Somit können die Maßnahmen der Banken die Geldschöpfung nur reduzieren, nicht aber erhöhen.
Nach dieser Argumentation scheint die Sorge über "zu viel Geldschöpfung durch die Banken" unbegründet zu sein. Denn in der Geldmultiplikatortheorie – jedenfalls in ihrer „reinen“ Form – erfüllen die Banken letztlich eine Rolle, die der von „Marionetten der Zentralbank“[22] gleicht. Als solche beschränken sie sich darauf, quasi automatisch Kredite an Kunden zu vergeben, sobald und solange sie über freie Reserven verfügen.
Nimmt man indes zur Kenntnis, dass erstens die einzelnen Banken Geldproduzenten und nicht reine Finanzintermediäre sind, dass zweitens keine Bank bei der Entscheidung, ob sie einem bestimmten Kunden einen Kredit gewährt, durch ihre Reserveposition eingeschränkt wird, und dass drittens die Kreditvergabe von Banken an Nichtbanken von fundamentaler Bedeutung für das Wachstum der Geldmenge ist, ist es durchaus möglich, dass „zu viel“ Geld geschaffen wird.
Finanzkrisen als Folge übermäßiger Geldschöpfung
Zwei Punkte sind hier zu beachten: Erstens, was speziell in der Diskussion über Inflationsgefahren manchmal übersehen wird: Wenn eine Bank einem kreditwürdigen Kunden einen Kredit gewährt, wird das von ihr (in Form von Sichteinlagen) geschaffene Geld wieder zurückgezahlt. Das heißt, es wird der Volkswirtschaft entzogen, wenn das Darlehen getilgt wird – und da es mit Zinsen zurückgezahlt wird, übersteigt die Rückzahlung sogar den ursprünglichen Betrag. Wenn also Kredite und Einlagen zunehmen und die Wirtschaft wächst, wird Geld geschaffen und durch Kreditrückzahlung auch wieder vernichtet.
Zweitens können zwar übermäßige private Ausgaben, die durch Geldschöpfung der einzelnen Banken finanziert werden, inflationär wirken. Die größere Gefahr, die von zu viel Geldschöpfung durch die Banken ausgeht, ist jedoch in der Regel nicht Inflation, sondern eine Finanzkrise. Zu viel „privates Geld“ (in Form von Bankeinlagen) bedeutet oft zu viele riskante Schulden. Die Risiken bauen sich auf und entladen sich schließlich in einer Krise. In der Regel handelt es sich dabei um Kreditgewährungen zum Kauf von Finanzanlagen (finanziellen Vermögenswerten). Steigen die Preise von Vermögenswerten, erscheint es verlockend, Kredite für den Kauf solcher Vermögenswerte aufzunehmen, in der Erwartung, dass sie später zu einem höheren Preis verkauft werden können. Erfüllt sich diese Erwartung, können die Kredite problemlos zurückgezahlt werden, und es bleiben Gewinne übrig. Dies ist dann Spekulation und die Verwendung von Fremdkapital wird als Leverage (Hebelwirkung) bezeichnet: Wenn man einhundert Euro an eigenem Geld einsetzt und sich neunhundert Euro leiht, erhöht sich der potenzielle Gewinn, wenn die Preise der Vermögenswerte tatsächlich steigen. Kredite plus Zinsen lassen sich dann zurückzahlen und sowohl mit dem geliehenen Geld als auch mit dem Eigenkapital Gewinne erzielen.[23] Treten dagegen die Erwartungen nicht ein und sinken die Erträge unter die zu leistenden Zinsen, kann der Leverage-Effekt zu hohen Verlusten und zu einer Aufzehrung des Eigenkapitals führen. Das ist ein riskantes Geschäft.
Die Kombination aus zunehmendem Leverage und immer komplexeren finanziellen Verflechtungen sorgt dafür, dass einige wenige, größere Insolvenzen schnell das gesamte Finanzsystem in Mitleidenschaft ziehen.
Tatsächlich sind Finanzkrisen üblicherweise das Ergebnis einer übermäßigen Geldschöpfung durch private Finanzinstitute. Sie resultieren in aller Regel aus der Kreditvergabe zum Kauf von Vermögenswerten – einschließlich Häusern. Dies treibt dann die Preise der Vermögenswerte in die Höhe und kann zu Blasenbildung führen. Der globalen Finanzkrise von 2008 gingen Blasen auf dem Häusermarkt, bei Rohstoffen und bei Dot-Com-Aktien voraus. In allen Fällen trug geliehenes Geld dazu bei, die Blase zu befeuern. Nicht vergessen werden sollte in diesem Zusammenhang, dass Geschäftsbanken zudem die Möglichkeit besitzen, mit selbst geschaffenem Geld an Börsen zu spekulieren. Banken können nämlich nicht nur ihren Kunden, sondern auch sich selbst Geld zur Verfügung stellen – im sogenannten Eigengeschäft.[24]
Empirische Ergebnisse zu den bisherigen Finanzkrisen
Bestätigt wird diese Sicht in einer umfassenden Untersuchung von Richard Vague, der in „A Brief History of Doom“[25] alle großen Finanzkrisen der letzten zweihundert Jahre untersucht (insgesamt 20 ab 1819) – in erster Linie in den USA, aber auch in Großbritannien, Deutschland, Frankreich, Japan und China. Diese Länder waren zusammen die sechs größten Volkswirtschaften der Welt in dieser Zeitspanne, mit insgesamt etwa 50 Prozent oder mehr des weltweiten BIP.
Vague beschreibt den Übergang von der Krise einzelner Banken zu einer Finanzkrise. Eine einzelne Bank gehe pleite, wenn sie zu viele faule Kredite vergebe. Zu einer Finanzkrise komme es, wenn viele Banken und andere Kreditgeber in einem bestimmten Land pleitegingen oder so kurz vor dem Zusammenbruch stünden, dass sie gerettet werden müssten. Um wirklich als eine Finanzkrise zu gelten, müssten diese Bankenausfälle so weit verbreitet sein, dass sie eine bedeutende Anzahl von Kreditgebern beträfen und das Wirtschaftswachstum eines Landes beeinträchtigten.
Die Forschungsergebnisse von Vague zeigen:
„Die private Verschuldung ist der Schlüssel und die Geschichte der Finanzkrisen ist im Grunde genommen eine Geschichte der privaten Verschuldung und der ausufernden Kreditvergabe. Immer wieder geht es um Kreditvergabebooms, bei denen Banker und andere Kreditgeber viel zu viele faule Kredite gewähren.“[26]
„Stabilität ist destabilisierend“
Es bleibt die Frage, warum es immer wieder – trotz der negativen Erfahrungen in der Vergangenheit – zu Phasen mit einer ausufernden Kreditvergabe und zügellosen Spekulation kommt, die dann in Finanzkrisen münden. Die immer noch beste Erklärung dafür bietet die „Hypothese der finanziellen Instabilität“, die von dem bedeutenden US-amerikanischen Ökonomen Hyman Minsky entwickelt wurde.[27] Eine umfassende Darstellung würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen, deshalb muss eine kurze Zusammenfassung der wesentlichen Erkenntnisse genügen:
Minsky begann in den späten 1950er Jahren mit der Entwicklung seiner Theorie. Die frühe Nachkriegszeit war ungewöhnlich ruhig – zwischen dem Zweiten Weltkrieg und der Mitte der 1960er Jahre gab es keine nennenswerten Finanzkrisen. Minsky führte dies auf die Regulierung der Finanzmärkte und die gedämpfte Risikobereitschaft zurück, die durch die Erinnerung an die Große Depression aufrechterhalten wurde. Niemand, der diese Katastrophe miterlebt hatte, wollte übermäßige Risiken eingehen. Minsky sagte jedoch voraus, dass die Erinnerungen daran verblassen und die Finanzinstitute Wege finden würden, die Regulierungen zu umgehen. Schließlich würden sich die Finanzpraktiken in einer Weise entwickeln, dass sie mehr Risiken fördern. Und wenn der Staat eingreife, um eine Krise zu verhindern, werde er damit diese risikoreichen Verhaltensweisen noch bestärken.
Minskys "Hypothese der finanziellen Instabilität" beschreibt also die Transformation einer Volkswirtschaft von einer "robusten" zu einer "fragilen" Finanzstruktur. Er fasst seine Überlegungen kurz und prägnant so zusammen: "Stabilität ist destabilisierend". Damit meint Minsky, dass eine scheinbare Stabilität, die über einen längeren Zeitraum anhält, Investoren, Finanzinstitute und Unternehmer zu immer größerer Risikobereitschaft ermutigt. Sie tendieren dazu, im Verhältnis zu den erwarteten Erträgen mehr und höhere Kredite aufzunehmen und mit neuen, risikoreicheren Finanzinstrumenten zu experimentieren. Darüber hinaus lockern nicht selten die Regulierungsbehörden die Vorschriften, weil sie glauben, dass die Abwärtsrisiken geringer geworden sind. All dies erhöht die finanzielle Fragilität und damit die Instabilität.
Einordnung des aktuellen Geschehens
Nun wird öfter argumentiert, dass die gegenwärtige Krise verschiedener Banken, zumindest im Fall des Zusammenbruchs der Silicon Valley Bank (SVB), aus dem üblichen Muster einer Banken- und Finanzkrise herausfällt. Denn die SVB habe sich nicht in einem unverantwortlichen „Kreditvergabe-Rausch“ befunden, als sie in Schieflage geraten sei. Stattdessen habe sie einen eigentlich sicheren Weg gewählt und hohe Summen – in Zeiten niedriger Zinsen – in langlaufende US-Staatsanleihen angelegt, deren Kurse durch die dann folgenden Zinserhöhungen der US-amerikanischen Notenbank Federal Reserve deutlich gesunken seien. Wenn die Zinssätze steigen, sinken die Werte der Anleihen, und dies kann Finanzinstitute in die Insolvenz treiben – wenn nämlich ihre Verbindlichkeiten ihre Vermögenswerte übersteigen.
Nun ist es zweifellos richtig, dass es sich im Fall der SVB um eine höchst ungewöhnliche Krise handelt. Eine Analyse der Fehler, die die SVB beging, ist komplex und liegt außerhalb des Rahmens dieses Beitrags. Zu fragen wäre beispielsweise, warum die SVB nicht berücksichtigt hat, dass die erworbenen US-Staatsanleihen zwar kein Ausfallrisiko aufwiesen, aber mit einem Zinsrisiko verbunden waren (zumal das allgemeine Zinsniveau zur Zeit des Erwerbs so niedrig war, dass sich die Zinsen eigentlich nur noch in eine Richtung bewegen konnten – nämlich nach oben), weshalb sie nichts unternommen hat, um sich gegen das Risiko von Zinsänderungen abzusichern, warum sie ausgerechnet Goldman Sachs anheuerte, um eine Kapitalerhöhung zur Rettung durchzuführen (was missglückte) usw.
Interessant ist in unserem Zusammenhang, dass aber auch die Untersuchung der Pleite der Silicon Valley Bank häufig auf Grundlage eines falschen Verständnisses der Funktionsweise von Banken erfolgt, worauf bereits Paul Steinhardt und Hans-Peter Roll mit Recht hingewiesen haben (hier und hier). In diesen Darstellungen basierte das Geschäftsmodell der SVB – wie das aller Banken – auf der sogenannten „Fristentransformation“, nach der kurzfristige Einlagen von Sparern zur Refinanzierung verwendet werden, um langfristige, höher verzinste Kredite vergeben zu können. Nimmt man jedoch zur Kenntnis, dass Banken gar keine Refinanzierung ihrer Aktiva vornehmen müssen, weil sie Geldproduzenten sind, können solche Beschreibungen des SVB-Geschäftsmodells nicht korrekt sein.
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