Die Macht des Defizit-Mythos
Für MMT-Vertreter ist der Rücktritt von Liz Truss Folge eines inkompetenten ‚Government‘, der zu keinerlei Revision ihrer Theorie nötigt. Aber vielleicht sind es gerade ihre Dogmen, die schuld an der Niederlage einer gewählten Regierung gegen die Allianz aus unabhängiger Zentralbank, ihren Unterstützern und Finanzmärkten sind.
Stephanie Kelton ist eine der bekanntesten Vertreter der Modern Monetary Theory (MMT). In ihrem Buch „Der Defizit Mythos“ vergleicht sie die Erkenntnisse der MMT über die Funktionsweise moderner Geldsysteme mit denen von Kopernikus. So wie er unsere Sicht auf den Kosmos verändert habe, verändere die MMT unsere Sicht auf Haushaltdefizite.
Sobald man erkenne, dass „monetär souveräne Staaten“– Großbritannien wird explizit als ein Beispiel genannt – das „Monopol zur Emission einer Fiat-Währung innehabe“, wisse man auch, dass sich Haushaltdefizite ohne Weiteres als Mittel eigneten, um „eine Wirtschaft wieder ins Gleichgewicht zu bringen“.
Naomi Klein haben diese Ausführungen offensichtlich überzeugt. Sie hat empfohlen, Keltons Buch zu lesen und das Gelesene politisch umzusetzen. Liz Truss als Premierministerin und Kwasi Kwarteng als ihr Finanzminister haben dem Ratschlag Kleins entsprechend gehandelt und ein Haushaltsdefizit angekündigt, um damit ökonomisches Wachstum zu generieren.
Alle Warnungen über die negativen Folgen eines Haushaltsdefizits haben sie mit Aussagen gekontert, die so auch von MMT-Vertretern getätigt werden hätten können. So hat Truss die Notwendigkeit eines ausgeglichenen Staatshaushalts als Ausdruck einer „Abakus-Ökonomik“ gegeißelt. Die dahinterstehende Ökonomik also sei so primitiv, wie ein Abakus – ein mechanisches Rechenhilfsmittel, das einst zur Vermittlung der Grundrechenraten diente.
Truss und Kwarteng waren sich allerdings bewusst, dass sie sich mit ihrer Politik nicht nur gegen eine theoretisch überkommene „Treasury-Orthodoxie“ wandten, sondern auch einen Machtkampf mit ihren Vertretern lostraten. Konsequent haben sie daher einen Spitzenbeamten des Finanzministeriums, Tom Scholar, fristlos entlassen, der das Mini-Budget der Truss-Regierung mit der Bemerkung kritisiert hatte, dass für „alles irgendwie bezahlt“ werden müsse.
Allerdings haben sie die Macht ihrer Gegenspieler unterschätzt. Das erklärt, warum sich zunächst Kwarteng und dann Truss zum Rücktritt gezwungen sahen und mit Rishi Sunak nun ein Vertreter einer „soliden Fiskalpolitik“ – also eines ausgeglichenen Staatshaushalts – zum neuen britischen Premierminister gekürt wurde.
In einer Vielzahl von Artikeln habe ich mich wie MMT-Vertreter gegen die Prinzipien einer „soliden Fiskalpolitik“ und im Anschluss an Abba-Lerner für eine „funktionale Fiskalpolitik“ ausgesprochen. Allerdings habe ich ihren Anspruch, eine empirisch adäquate Theorie moderner Geldsysteme vorgelegt zu haben, in mehreren Artikeln explizit widersprochen (zum Beispiel hier). Ebenso habe ich mich gegen eine Reihe von Wirtschaftsanalysen und daraus abgeleiteter wirtschaftspolitischer Vorschläge mit dem Hinweis gewandt, dass sie der institutionellen Realität des gegenwärtigen Finanzkapitalismus nicht gerecht würden (hier, hier und hier zum Beispiel).
Das gescheiterte Truss/Kwarteng-Experiment scheint meine Kritik bestätigt zu haben. Aber hat es auch führende MMT-Vertreter veranlasst, die von mir identifizierten Schwachstellen ihrer Theorie einer Revision zu unterziehen?
Die Natur moderner Geldsysteme
Nach meiner Meinung sind Geldsysteme Institutionen. Unser gegenwärtiges Geldsystem wiederum ist Element eines Institutionengeflechts, das man als „Kapitalismus“ bezeichnet. Institutionen sind demnach nicht nur „Regeln“, sondern alle möglichen sozialen Entitäten, die kausal wirksam sind und ihre Existenz menschlichen Handlungen und denen ihnen zugrunde liegenden Intentionen verdanken (mehr dazu hier).
Dieser Institutionenbegriff ist zugegebenermaßen recht abstrakt und weit. Er hat aber den Vorteil, aus einer Analyse des Geldsystems kausal wirksame Entitäten nicht vorschnell auszuschließen. Das genau muss sich die MMT vorwerfen lassen, wenn sie einerseits die Notwendigkeit der Refinanzierung von Staatsausgaben durch Steuern und den Kapitalmarkt für einen Währungsraum wie die Eurozone bejaht, aber für souveräne Währungsräume, die sich dadurch auszeichnten, ihre „eigene“ Währung zu emittieren, verneint.
Diese Unterscheidung scheint nämlich prima facie vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit den Mini-Budgets obsolet zu sein: Die Finanzmärkte scheinen auch in Großbritannien so wie in der Eurozone in der Lage die Politik in die Schranken zu verweisen. Der folgende Tweet von Simon Wren-Lewis, einem ehemaligen wirtschaftswissenschaftlichen Berater von Jeremy Corbyns Schattenkabinett, bietet Anlass, die von der MMT behauptete Unabhängigkeit "währungsouveräner" Staaten von den Finanzmärkten kritisch zu überprüfen:
"Man kann den globalen Kapitalismus oder seine nationalen Merkmale nicht wegwünschen, weil die britische Regierung ihre eigene Währung emittieren kann – das ist die Essenz der MMT, wir haben jetzt ihre Grenzen gesehen."
Für Bill Mitchell bestätigen solche Aussagen allerdings nur, dass "Progressive immer noch glauben, dass die globalen Zocker auf den Finanzmärkten allmächtig sind und eine währungsemittierende Regierung nur mit einer Politik durchkommen kann, die von diesen amorphen Händlern der Gier 'gebilligt' wird."
Doch Fakt ist, dass die „greed merchants“ dadurch, dass sie massiv britische Staatsanleihen verkauften, deren Marktpreise ebenso rekordverdächtig wie das britische Pfund nach unten bewegten und Pensionsfonds in eine bedrohliche Schräglage brachten – und damit schließlich die Widersacher der „Treasury-Orthodoxie“ zur Kapitulation zwangen.
Wie bereits an anderer Stelle festgehalten, scheint damit das Mini-Budget-Debakel die folgende These Joseph Vogls eindrucksvoll zu bestätigen:
„[I]m modernen Finanzwesen [hat sich] eine politische Entscheidungsmacht konzentriert, die abseits von Volkssouveränität und unter Umgehung demokratischer Prozeduren agiert.“
Das widerspricht diametral dem Glauben der MMT, die die politische Entscheidungsmacht über Staatsausgaben beim „Government“ und keineswegs bei den „Finanzmärkten“ angesiedelt sieht.
Lektionen, die gelernt sein wollen
Bill Mitchell versucht, die Macht der Finanzmärkte allein als Schwäche des britischen „Government“ erscheinen zu lassen:
"Eine gespaltene Regierung mit inkompetenten Führern wird auch im Währungswesen für Unsicherheit und Chaos sorgen."
Dieser Meinung stimme ich zu, wenn unter „Government“ sowohl die britische Regierung unter Liz Truss als auch die britische Zentralbank verstanden werden und der wirkliche Konflikt nicht zwischen unterschiedlichen Regierungsmitgliedern, sondern primär zwischen Regierung und unabhängiger Zentralbank lokalisiert wird. Damit aber stellt sich die Frage, was den Konflikt dieser beiden Staatsorganisationen definiert.
Dazu findet sich bei Mitchell kein Wort, was allerdings kein Zufall ist. Die MMT sieht eine Zentralbank weitgehend als staatliche Behörde an, deren Funktion darin besteht, Geld auf Anforderung des Finanzministeriums für ihre Ausgaben zu produzieren. Zwar gäbe es eine Vielzahl von Regeln, die den Anschein erweckten, dass das Finanzministerium für die Finanzierung seiner Ausgaben auf Steuereinnahmen oder Kapitalmarktfinanzierungen über die Emission von Staatsanleihen angewiesen sei. Dieser Eindruck ergäbe sich durch „politische Regeln“, die aber „selbst gewählt“ seien und daher keinen „intrinsischen Status“ hätten.
Damit behauptet die MMT, dass "politische Regeln" kausal unwirksam sind. So zum Beispiel entsprechende Vorschriften, durch Steuereinnahmen nicht gedeckte staatliche Ausgaben durch die Emission von Staatsanleihen zu finanzieren, keinerlei Schlüsse erlauben, wie staatliche Ausgaben tatsächlich bestritten werden. Aus dieser Perspektive handelt es sich bei Anleiheverkäufen dann – egal ob nun durch das Finanzministerium oder die Zentralbank – nicht um eine „Finanzierung“, sondern um „geldpolitische Operationen“, so ein weiterer führender Proponent der MMT, L. Randell Wray.
Vereinfacht gesagt sehen MMT-Vertreter nationale Zentralbanken als Bank einer Regierung. Mitchell sieht daher den einzigen Unterschied zwischen einer direkten „Finanzierung“ durch die Zentralbank und der über den Kapitalmarkt darin, dass es im zweiten Fall zu einer Subventionierung von Inhabern von Staatsanleihen kommt. Entsprechend unproblematisch erscheint ihm daher seine Forderung, die „Emission von Staatsanleihen vollständig zu stoppen“.
Solche Aussagen belegen, dass sich die MMT beharrlich weigert, die Realitäten des heutigen globalen Finanzsystems zur Kenntnis zu nehmen: Dieses, so hält Joscha Wullweber[1] fest, ähnelt „dem Finanzsystem vom Ende des 20. Jahrhunderts kaum noch“. Von aller größter Bedeutung sei es, so Wullweber weiter, den „neuen Staats-Finanzmarkt-Nexus“ zu sehen. Sieht man diesen, erkennt man jedoch leicht, dass ohne Staatsanleihen das globale Finanzsystem sofort zusammenbrechen würde.
Zentralbanken sind schon lange zu Organisationen geworden, die den Aufbau und den Erhalt eines marktbasierten Finanzsystems betreiben. Ihre „Interventionen“, etwa durch Anleiheankäufe im Rahmen des quantitative easing, dienen der Stabilisierung dieses inhärent instabilen Systems – und keineswegs der fiskalpolitischen Realisierung von wirtschaftspolitischen Zielen einer gewählten Regierung.
Ich habe daher dafür plädiert, von dem in keynesianischen Kreisen beliebten drei Sektoren-Modell Abstand zu nehmen, in dem eine Zentralbank als integraler Teil des Staates konzeptualisiert wird. Um die Kreislaufmodelle zur Analyse wirtschaftlicher Zusammenhänge nutzbar zu machen, sei es unabdingbar, als vierten Sektor einen Bankensektor zu berücksichtigen, dem neben den Geschäftsbanken auch die Zentralbank zuzurechnen sei.
Macht eines Paradigma oder des Finanzsystems?
Mitchell erklärt sich das Mini-Budget Debakel durch die Macht eines Paradigmas, das unseren Blick auf die Funktionsweise und damit die Möglichkeiten moderner Geldsysteme verstellt. Um eine Situation wie die in Großbritannien zu verhindern, wäre es also ausreichend, sich eine andere, die MMT-Brille, aufzusetzen.
Aus meiner Sicht dagegen bedarf es zwar durchaus der theoretischen Einsichten der MMT, aber eben auch einer umfassenden Reform unseres gesamten Finanzsystems. Eine solche Reform muss sicherstellen, dass die unbestreitbare Macht einer Zentralbank „to control yields at whatever level it chooses“ den Zielen einer gewählten Regierung untergeordnet wird. Andererseits muss die Macht der Finanzmärkte, die sich sicherlich nur so weit reicht, wie „the government allows it“ (Mitchell), massiv eingeschränkt werden, damit sie die Ziele einer Regierung nicht mehr erfolgreich obstruieren können.
In diesem Zusammenhang ist wichtig zu erkennen, dass wir Zeuge einer Niederlage einer gewählten Regierung gegen die Allianz einer demokratisch nicht legitimierten Technokratur (einer unabhängigen Zentralbank), ihrer Unterstützer in allen möglichen einflussreichen Organisationen und den Finanzmärkten geworden sind. Man sollte sich daher davor hüten, den Sturz der Regierung Truss als erfolgreichen Widerstand gegen die wirtschaftspolitischen Pläne einer neoliberalen Regierung zu interpretieren. Vielmehr ist zu konstatieren, dass es sich um eine Niederlage einer zwar neoliberalen Regierung handelt, die aber dennoch Haushaltsdefizite als Mittel zur Stimulierung des Wirtschaftswachstums einsetzen wollte.
Anders gesagt, obsiegt haben Repräsentanten des Finanzkapitalismus, die nicht weniger wie Truss sich der neoliberalen Agenda von niedrigen Steuern, Deregulierung und Globalisierung verpflichtet fühlen, aber anders als Truss dabei auch auf eine "solide Fiskalpolitik" pochen. Das aber heißt, dass nun in Großbritannien mit einer "expanisiven Austeritätspolitik", wie sie prominent von Alberto Alesina propagiert wird, gerechnet werden muss.
Wie die Erfahrungen der EU belegen, ist eine solche Politik zwar was das Wirtschaftswachstum betrifft zum Scheitern verurteilt, zementiert aber die Macht des unproduktiven Finanzssektors und verhindert damit eine Renaissance des Wohlfahrsstaats, der unabdingbar einer prosperierenden Realwirtschaft bedarf. Was aber sicherlich ohne eine "Fesselung" der Finanzmärkte nicht möglich ist, weshalb man die Interventionen der Bank of England keinesfalls als Ausweis der Macht des "Staates" feiern, sondern als Absage an eine Reform des ausbeuterischen Finanzkapitalismus bedauern sollte.
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